Diät und mehr

Wer weiß schon, wer Narzis, wer Echo, was Narzissmus ist?
   

 

[Narziss und Echo (1)] °°[Narziss-Mythos nach Voss]° °°[Narzissmus und Diät]°°° [Narzissmus nach Kohut] °°° [Narzissmus m/w] °°° [Narzissmus-Zitate] °°° [Schnelltest Narzissmus]

 

Narziss und Echo

Mythologie und Narzissmus

- Interpretation -

 

 

 
In Ovids Metamorphosen finden wir die Geschichte von Echo und Narziss, die hier unser zentraler Gegenstand sein wird.
Was heute "Narzissmus" genannt wird, hat es schon immer gegeben - wie Plutarch erkannte, leitet "Narziss" sich von "Narzisse" ab, damit verwandt ist "Narkose".

 

Zu diesem Mythos gibt es bei Ovid eine Vorgeschichte, ohne die nicht zu verstehen ist, wie Narziss oder auch Echo "funktionieren".

 

In der Fassung OVIDs ist Narziss der Sohn der Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus. Liriope befragt Tiresias, den Seher, nach der Zukunft ihres Sohnes und erhält eine vage Auskunft. Narziss' Kindheit bleibt in der Geschichte ausgeblendet; als Jugendlicher begenet er auf der Jagd der Nymphe Echo, die von ihm verschmäht wird und sich daraufhin in Stein verwandelt.
Ein gleichfalls Verschmähter wird von Nemesis, der Göttin der Vergeltung, erhört, und Narziss verwandelt sich bei der bisher unberührten Quelle in eine Blume, womit er die Weissagung des Propheten bestätigt.

Ist damit das Ende der Narziss-Episode relativ klar definiert (die sich anschließende Pentheus-Sage, die eine weitere Aussage des Tiresias und die Macht des Baccus(-Kultes) bekräftigt, schließt das dritte Buch der Metamorphosen ab), so kann doch als ihr eigentlicher Anfang nicht die Geburt gesetzt werden, da die direkt vorhergehende Episode schildert, wie der das Leben des Narziss (indirekt) beeinflussende Tiresias seine seherischen Fähigkeiten erhielt, indem er vergeblich versuchte, einen fundamentalen Streit zwischen Juno und Jupiter zu schlichten. Diesem Streit der Götter wiederum ging die Geburt des Baccus voraus; gewissermaßen lag sie dem Streit zugrunde.

Da der Mythos von Narziss also in die Erzählungen über Baccus eingebettet ist, halte ich es für notwendig, neben Narziss' Umfeld auch die Entstehung des "zweimal geborenen" (met. 3.317) Weingottes in die Interpretation aufzunehmen.

 

Baccus

Diese Episode beginnt mit Junos Hass auf Semele, die von Jupiter geschwängerte, werdende Mutter des Baccus. Neben einer alten 'Familienfehde' und der Kränkung, "dass Semele schwanger vom Samen des großen Jupiter" (met. 3.259 f.) war, beruhte er auf dem Neid auf die sichtbare Schwangerschaft, die ihr "kaum glückte" (met. 3.268).

Zwar war sich Juno über ihre Position gegenüber Jupiter nicht so ganz klar ("Schwester und Gattin, zum mindesten Schwester" [met.3.266]).

Juno weckte bei Semele einen Wunsch, dem Semele nicht gewachsen war; der 'geliebte' Jupiter sollte Semele töten (vgl. met.3.272).


Mit diesem Ziel weckte sie Semeles Zweifel. Indem sie ihr, als Alte verkleidet, suggeriert: "Viele sind schon als Götter in züchtige Kammern gedrungen. Dass er Jupiter sein will, genügt nicht .... wie er vor Juno erscheint, ... Schenk' er dir seine Umarmung!" (met. 382 ff).

 

Wenn diese "Erscheinung"

  "zur - ontogenetischen ooder phylogenetischen - Vergangenheit des Individuums gehört und ein Ereignis darstellt, das mythischer Natur sein kann, aber bereits besteht, bevor ihm eine nachträgliche Bedeutung verliehen wird" (LAPLANCHE/PONTALIS 1973, S. 576 f.),

so handelt es sich um die Urszene im Sinne FREUDs. Bei der vom Kind als "Akt der Gewalt von Seiten des Vaters" gedeuteten Szene, die vom Kind erst nachträglich verstanden und gedeutet wird, hält er [FREUD] daran fest, dass die Realität zumindest Hinweise geliefert hat (Geräusch, Koitus der Tiere etc.)" (vgl. aaO.)

Mythologisch werden diese Hinweise aus der Realität durch das "Getöse des Himmels" (met. 3.309) dargestellt; bei diesem Gewitter benutzt Jupiter "einen leichteren Blitz, dem die Hand der Cyklopen / Weniger rasendes Feuer verlieh ..." (met.3.305 ff.).

Der sexuelle Akt stellt im Sinne diese Mythos / dieser Urphantasie die Begegnung eines Gottes mit einer Sterblichen dar, die für letztere tödlich enden musss - der Fötus ist vom verbrennenden Körper der Mutter noch so weit geschützt, dass er (im Schenkel des Gottes) überleben kann.

Spätestens bei der Visualisierung dieser Vorstellung wird klar, dass "das" nicht möglich ist - es handelt sich bei diesem Bild um die Montage von Vater- und Mutterschaft.

 

Entgegen der OVIDschen Fassung, in der Jupiter darüber betrübt ist, das ihm entlistete Versprechen, sich Semele als Gott zu zeigen, einlösen zu müssen, sieht VOGT bei der griechischen Fassung des Mythos eindeutig den Mann als Schuldigen und den Mythos wohl als Verschleierung, als Abwehr der "wirklichen" Gefühle:

  Der Mythos versucht eine massive vom Vater oder Mann (Zeus) ausgehende Aggression gegen die Mutter oder Frau (Semele) so darzustellen, als ob die Frau daran schuld wäre (Heras Eifersucht, Semeles Neugier), doch ist es offensichtlich, dass der fast allwissende Zeus in diesem Fall sicher wusste, welche Konsequenzen sein Erscheinen als Blitz haben würde. Das Motiv für die destruktive Demonstration phallischer Potenz dürfte wohl Gebärneid sein, Gebärneid im Samelpunkt patriarschalischer Macht" (Vogt 1986, S. 85).

Will man diese Episode lediglich vom agierten Gebärneid her deuten, bleibt der im Mythos enthaltene Hinweis auf die - von der Urphantasie her gegebene - bisexuelle Disposition ausgeklammert.
Der männliche Gebärneid entwickelt sich möglicherweise erst aus der nicht vollständig aufgegebenen Vorstellung, dass der Mann die Kinder nicht nur zeugen, sondern auch austragen kann.

Bei einer "tiefenpsychologischen" Mytheninterpretation, die das eigentliche Motiv für den Tod der Semele im Raub des Embryos zwecks "patriarchalischer Leihmutterschaft" sieht, läge es nahe, in der der Göttin beipflichtenden Schuldzuweisung [an "den Mann, die Männer"] die Abwehr der Wahrnehmung weiblicher Macht und Gewalt zu vermuten, die sich gelegentlich auch des Mannes/Vaters/Gottes als ausführendem Organ bedient.

Natürlich kann aber auch die weibliche List, sich der Verpflichtung Jupiters gegenüber seinem gegebenen Wort zu bedienen, als die erforderliche sekundäre Bearbeitung von sonst nicht zusammenpassenden Partikeln des Mythos verstanden werden.

OVIDs Erklärung der Geschehnisse um Baccus (es geschah "nach dem Willen des Schicksals", vgl. met. 3.316) entspricht seiner Auffassung vom 'fatum' (vgl. met. 3.259 ff.).

Bei aller Verwunderung über Männer, die einen Gebärneid entwickeln, wollen wir jedoch nicht vergessen, dass Kinderwunsch und -Gebären 'natürlich' der weiblichen Hemisphäre zugehören. Und was hatte Juno Semele gegenüber entwickelt, wenn nicht einen weiblichen Gebärneid?

 

Baccus, II

"Heh, Väterchen Franz - ... erzähle die Geschichte, erzähle sie ganz!" Franz-Josef DEGENHARDT

Wird die gleiche Geschichte zweimal erzählt, erhält man zwei Versionen. Wie auch immer Du diese Gechichte erzählst - es ist Deine Version.

Die folgende Version ist bei der Arbeit an der "Liebeskunst" entstanden, als es nötig erschien, etwas mehr über Eros/Amor und Dionysus/Baccus zu erklären.

 

Baccus ist der jüngste Sohn des Jupiter, dessen Beziehung zu seiner Gattin Juno asexuell wie zwischen Geschwistern war. Es gab immer nur Streit zwischen ihnen.
Worüber? Zum Beispiel über die Frage, ob Männer oder Frauen beim Geschlechtsakt mehr Lust und Freude empfänden. Sie konnten sich in dieser Frage nicht einigen, obwohl schon damals ein Seher die passende Antwort gab. Jupiter hatte also keine Freude an Juno und tröstete sich mit Alkohol und "gelegentlichen" Seitensprüngen.
Als er eine gewisse Semele schwängerte, wollte Juno wenigstens aus ihrer Rache Befriedigung ziehen: Durch die Schwangerschaft war aus dem heimlichen Verhältnis, das sie vielleicht noch toleriert hätte, ein offensichtliches geworden.

Juno ging zu Semele, verkleidet als deren alte Amme, säte Zweifel: Dass der, der sich da als Jupiter ausgab, auch wirklich Jupiter sei, müsse er doch erst mal beweisen. Nur, wenn er sich Semele auch in der Gestalt, in der er Juno gegenübertrat, zeige, könne Semele sich sicher sein, mit wem sie zu tun hatte.
Hera beeinflusste Semele so sehr, dass Semele Jupiter bat, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Der fragte nicht nach, um was es ginge, sondern schwor einen heiligen Eid, zu tun, was Semele verlangen würde. Er solle sich ihr so zeigen, ihr so gegenübertreten, wie er sich Juno zeigte! Ohne es zu wissen, hatte Semele ihr Todesurteil gesprochen.
Juno gegenüber trat Jupiter mit Blitz und Donner auf - für menschliche Wesen tödlich. Also starb Semele, das Kind in ihrem Bauch wurde in Jupiters Oberschenkel eingenäht, wo es sich weiterentwickeln konnte, schließlich von Ammen großgezogen. Wir lernen:

1.) Nicht auf das Geschwätz von Ammen hereinfallen,

2.) Nicht an die Stelle der Anderen treten wollen,

3.) Ruhig auch einmal nachfragen, was der Andere will, nicht sofort unbedingten Gehorsam leisten,

4.) Wer jeden Eid einhält, gefährdet das Leben Anderer.

Dass es die Amme (heute noch: Hebamme - Geburtshelferin) gab und gibt, ist ein Zeichen dafür, dass kulturelle Probleme mit der Mütterlichkeit aufgetreten waren. Heute ist die industrielle Säuglingsnahrung verbreitet.
Im Sprachgebrauch haben wir immer noch den Ausdruck "Ammenmärchen erzählen"; Geschichten mit unheilvollem Inhalt, die z.B. die junge Mutter verunsichern.

Wir können annehmen, das die Entwicklung echter, reifer Mütterlichkeit auf Hindernisse stieß, wo (so dass) es zum Einsatz der Amme kam. Damit war auch die eheliche Beziehung gestört, der natürliche Austausch von Geben und Nehmen. Hera ist ein Paradebeispiel für einen Frauentyp, der, erfüllt von Neid und Missgunst, dem Gatten jede "mütterliche" Zuwendung verweigert, sich nicht um ihn kümmert und mit seinen Sorgen nicht umgehen kann.

Semele ließ sich zweifach, von Jupiter und von Juno, verführen - mindestens einmal zuviel. Schon beim erstenmal schaltete sie die Vernunft aus, dachte nicht an die Folgen. Wer kein Kind will musste schon immer Vorkehrungen treffen und auf das eine oder andere verzichten.
Unverantwortlich handelte natürlich auch Jupiter. Andererseits: Die Affaire hatte die Entstehung eines neuen, einflussreichen Gottes zur Folge, der in sich wohl die Eigenschaften beider Eltern vereinte. Es könnte durchaus sein, dass das Kind unbewusst doch gewollt war.

Wir könnten auch sagen: Es musste so kommen. Das Prinzip, das Baccus verkörperte, beherrschte seinen Vater schon vor Baccus' Geburt: Jupiter konnte sich nicht offen mitteilen, war von neurotischen Sorgen beherrscht, "betrübt", muss eigentlich als depressiv bezeichnet werden. Wenn er - berauscht - aus sich herausging, führte das gleich zum Streit, weil er aus seinen Sorgen indirekt einen Vorwurf machte, sinngemäß: "Dem anderen Geschlecht geht es doch besser!" Das hört sich neidisch an und ist es wohl auch, hat aber mit seinen eigentlichen Sorgen, zu denen die Überlieferung kein explizites Material liefert, wenig zu tun.

 

Von Blitz und Donner wusste Semele nichts. Sie wollte doch nur, dass Jupiter sich ihr gegenüber benahm wie gegenüber Juno.
Und umgekehrt - sich ihm gegenüber einmal wie eine Juno benehmen? Herrisch-zänkisch-eifersüchtig-besitzergreifend?

Das wäre wohl die Situation, vor der Jupiter eigentlich floh. In dieser Situation würde das Unwetter aus ihm ausbrechen, "gibt es ein Donnerwetter". Semele einen Blankoscheck für ihre Wünsche auszustellen, mag für Jupiter Zeichen größter Liebe gewesen sein, aber Liebe allein genügt nicht.
Der Konflikt zwischen Juno und ihm reproduzierte sich auch bei Semele. Jupiter sehnt sich nach sexueller Erfüllung - Juno will davon gar nichts wissen, sondern Kinder austragen. Unter solchen Frauen, die ihr wahres Potential im Gebären sehen, hat Semele Juno sogar etwas voraus - wie schließlich auch Jupiter, der auf seine Art die Schwangerschaft erlebt. Damit vermischt er die väterliche und die mütterliche Rolle und wird keiner gerecht. Als Beschützer versagt er Semele gegenüber kläglich, als "Mutter" gibt er seine Verantwortung alsbald an die Ammen ab. Völlig unklar bleibt für ihn und seine Umgebung, welche Rechte und Pflichten er hat.

Am gegebenen Schwur hält er fest, egal unter welchen Voraussetzungen er ihn geleistet hat: Loyalität zur Gattin, auch wenn diese sein Glück nicht fördert. Wenn dies noch Gewissensgehorsam ist, ist das Gewissen allzu unflexibel.

Juno ist entschlossen, Semele und Jupiter zu schaden, hinterlistig missbraucht sie das Vertrauen, das Semele der vermeintlichen Amme entgegenbringt, lockt sie in die Falle. Streitsüchtig, wie sie ist, kann sie sich mit ihrem Gatten nicht auf gemeinsame Ziele festlegen, spielt stets die Enttäuschte, deren Rechte nicht gewahrt werden. Was ihm schadet, ist ihr recht. Es soll nicht nur die Geliebte ausgeschaltet werden, sondern es soll ihm auch weh tun.

Die Göttin bringt es fertig, dass er sie gar nicht mehr wollen kann. Eine Trennung ist auf der Ebene der Götter ausgeschlossen: Sie sind unsterblich, und wer geht, folgt der Aufforderung, zu gehen ("Gehe doch, geh doch, zieh doch endlich aus aus dem Olymp!") hätte den Machtkampf verloren.
Wirkliche Nähe entsteht nirgends in diesem merkwürdigen Dreieck, jeder denkt nur an seine unmittelbaren Bedürfnisse, nicht an die und die Rechte der Anderen, nirgends geht eine geistige Richtung zusammen. De Götter handeln völlig impulsiv und sind unfähig, über sich, über ihr Tun und die Folgen nachzudenken. Was das betrifft, sind wir den alten Göttern sogar überlegen.
Sie entsprechen nicht mehr unserer Religion, wir gebrauchen sie - als Anschauungsmaterial, warnendes Beispiel, nach dem wir uns nicht zu richten haben.

 

 

 

[Mythologie]

 

     

Mythen sind Kulturerbe, "Speicher" menschlichen Bewußtseins und Wissens, dessen Herkunft letzlich im Dunkeln liegt.

Das Wissen der Menschheit über die Welt und den Menschen wurde in den Mythen - allerdings verschlüsselt - weitergegeben. In der "Dialektik der Aufklärung" heißt es: Mythologie ist Aufklärung, und Aufklärung wird wieder zur Mythologie.

Moderne, etwa
psychoanalytische Konzepte greifen auf Mythen zu, bilden "neue" Begriffe, und können nicht anschaulich vermitteln, worum es sich bei "Narzißmus" handelt.

Der Begriff ist aus der Mythologie entliehen.

Liest man die entsprechenden Zeilen bei OVID, ergänzt sie u.A. durch die Befunde der Traumdeutung, kommt man dem Problem näher; der gute alte Mythos hat noch lange nicht ausgedient.

 

Während Semeles Schwester Ino Baccus' Wiege betreute, habe Jupiter, weinselig die schweren Sorgen beiseitewerfend, mit der müßigen Juno seine lässigen Scherze getrieben und behauptet, die Frauen empfänden mehr sexuelle Lust als die Männer. Juno muss diese scherzhafte (unsinnige, nicht ernst gemeinte) Behauptung als ernst aufgefasst haben, sie bestritt sie (vgl. met. 3.318-3.321).

 

 

Tiresias

Tiresias, der nun herbeigerufen wurde, "kannte die Venus auf beiden Seiten" (met. 3.323); er hatte "im grünen Walde" mit einem Stockschlag zwei sich paarende, "mächtige Schlangen" verletzt und wurde "Plötzlich - der Mann! - zum Weib - erstaunliches Wunder! - und lebte sieben der Herbste als Frau" (met. 3.326 f).

Wer wundert sich eigentlich noch über diese mythische Geschechtsumwandlung? Haben wir es verlernt, uns zu wundern? Staunen könnte man doch zumindest - als Kinder konnten wir uns doch auch noch wundern, etwa mit Rotkäpchen: "Großmutter, warum hast Du so große Augen? - Damit ich Dich besser sehen kann!°

Mit einer kleinen Erklärung sind wir doch schon zufrieden ...

 

Nun gehört "vor allem das berühmte Symbol der Schlange" zu den "weniger gut verständlichen männlichen Sexualsymbolen (wie) gewisse Reptilien und Fische (FREUD 4/1981, S. 125); sollte hier das Sexualsymbol das Geschlecht ausdrücken, so hätte Tiresias zwei Männer gestört, um daruafhin selbst zum Invertierten zu "werden". Die entsprechende Disposition kann mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden; FREUD wurde erst durch "private Äußerungen von W. FLIESS in Berlin ... auf die notwenige Allgemeinheit der Inversionsneigung bei den Psychoneurotikern" aufmerksam gemancht, nachdem er diese in einzelnen Fällen aufgedeckt hatte (vgl. a.a.O., S. 42, Hervorh. d. Verf.).

Die "Fixierung von Libido auf Personen des eigenen Geschlechts" findet sich im unbewussten Seelenleben "bei allen Neurotikern (ohne Ausnahme)" (vgl. a.a.O., S. 41); im Mythos wurde sie als temporärer Geschlechtswechsel versinnbildlicht:

Im achten Herbst erblickte Tiresias " dieselbsen Tiere aufs neue und spricht: 'Wenn ein Schlag auf euch eine solche Wirkung erzielt, dass des Täters Geschlecht sich ins Gegenteil wandelt, kriegt ihr jetzt einen Streich!' " (met. 3.327 ff).
Mit der erfolgreichen Rückverwandlung erscheint er den Göttern als Schiedrichter qualifiziert. In dem "heiteren Streitfall" bestätigte Tiresias Jupiters Worte (vgl. met. 3.322 f).

Dieser Streit der Götter erinnert an den von MENNINGER (1985, S. 53 ff) beschriebenen "Krieg der Geschlechter", als dessen Ursache er eine elementare Frustration der Frau ermittelte: Die Ehe sichert zwar durch Konventionen und Gesetze die materielle Sicherheit, nicht aber psychologische Liebesbeziehungen:

Der Unterschied der Geschlechter - Der Streit der Götter

 

 

 

"Ständig scheint ein heimlicher Krieg zwischen den Geschlechtern zu toben; statt eine bessere persönliche Integration und die persönliche Hilfsbereitschaft zu bewirken, scheint die Ehe die wechselseitige Aggression zu stimulieren. ... Beim eifrigen Bemühen, eine Gattin zu gewinnen, oder im Hochgefühl, einen Ehemann gefunden zu haben, wird das Kriegsbeil der Geschlechter begraben - jedoch nur für den Augenblick" (MENNINGER 1985, S. 60).

 

Die gegenseitige Verpflichtung der Heirat belaste die erotischen Reserven, die, wenn sie nicht aufgefüllt werden, sich erschöpfen und "im Lauf der Zeit erwacht in der ehelichen Gemeinschaft die alte aggressive Feindseligkeit gegenüber dem anderen Geschlecht., die durch die gesteigerten Emotionen im Schach gehalten wurde, zu neuem Leben" vgl. a.a.O., S. 60).
In der Folge - MENNINGERs >>Love against Hate<< erschien 1942 in New York - beklagtendie wenigsten Frauen ihre sexuelle Unbefriedigtheit, und sind sich nur selten

  "solcher negativer Gefühle den Männern gegenüber überhaupt bewusst, geschweige denn, dass sie sie aussprechen. ... Das Neurotische der Unbefriedigtheit von Frauen liegt in dem Umstand, dass sie die körperliche Liebe ihrer Männer, die sie wünschen und brauchen, nicht immer hinnehmen oder ihr entgegenkommen können, das Normal und Objektive darin, dass sie wirklich nicht nur in Bezug auf ihr unmittelbares Gechlechtsleben frustriert sind, sondern auch in Bezug auf den elementaren Zweck des Kiebestriebs: Das Austragen und Aufziehen von Kindern" (vgl. a.a.O., S. 61 f).

Also ist es absurd, wenn manche Frauen ihrer eigenen Physiologie die Schuld geben, "denn physiologisch (nicht psychologisch) ist die sexuelle Kapazität der Frau unbegrenzt". Die demgegenüber begrenztep physiologische Leistungsfähigkeit der Männer " ist ... nur selten in dem Maße schuld wie die Psychologie der Ehemänner" (vgl. a.a.O., S. 62, Hervorh. d. Verf.).

 

Die Aussage des TIRESIAS zu diesem Problem:

"Nur einen von zehn Teilen genießt der Mann, die zehn erfüllt die Frau, sich in ihrer Seele freuend" (KERENYI 1958, S. 115, zit. nach VOGT 1986, S. 163)

 

war vielleicht als Anstoß zur Diskussion gedacht: die (heutige?) Geheimnistuerei um sexuelle Frustrationen entstand durch sekundäre Empfindungen, also

 

 

"das Schamgefühl oder das Gefühl der Loyalität gegenüber dem Partner oder die vom Taktgefühl bestimmte Hemmung, das heißt, alles was Eheleute davon abhält, diese Angelegenheit mit anderen zu besprechen" (MENNINGER 1985, S. 63).

 

Indem Jupiter Baccus austrug, hat er Semele gewissermaßen dem eigentlichen Zweck der Liebe entfremdet; die Wut der "müßigen" Göttin, der Juno, galt somit auch seinem weiblichen Anteil.

Just dieser selbst ausgetragene Sohn aber übte den Einfluss aus, der Jupiters Zunge löste; dass Jupiter schon vorher befürchtete, was Tiresias sagte, ergibt sich daraus, dass er versuchte, seine Sorgen mit Hilfe des Alkohols zu vergessen, und seiner depressiven Stimmung entspricht der indirekte Vorwurf, den er Juno macht.

Die Unfähigkeit der beiden Götter, dieses Problem untereinander zu klären, zeigte sich darin, dass sie den "Weisen" rufen mussten.

Dessen weiser Spruch ist jedoch - zumindest für Juno - nicht unmittelbar einleuchtend; ihr Zorn, der sich gegen Tiresias richtet, war zwar schon von diesem angesprochen worden ('wenn sie sich in ihrer Seele freut'; s.o.); diese gelöste Stimmung konnte Juno im Innersten gerade wegen ihres Zorns nicht antizipieren.
Beinhaltet jenes letzte Zehntel, "einfach" die innere Freude, doch eine seelische Gelöstheit, Lust, die der Mann überhaupt nicht erreicht, so ist allein der Hinweis auf das Fehlende für die unfehlbare Göttin kränkend.

"Wenn sie sich in ihrer Seele freut" oder "Wenn sie sich bei dem, was im Bett geschieht, freut" - wo ist da der Unterschied? Es kommt auf das "wenn" und "ob" an - und Tiresias war ein höflicher Mensch, der sich darauf beschränkte, die ihm gestellte Frage zu beantworten. Hätte er deutlicher auf die Frigidität der Göttin hinweisen sollen? Oder darauf, dass auch der Göttergatte (in der Folge) nicht mehr konnte, wie er wollte? Wie entscheidet man einen Streit um des Kaisers Bart, wie löst man ihn auf, und wohin mit all der Verbitterung, die aus dem sinnlosen Zwist, oder warum auch immer, entstanden ist?

Jupiter ist voller Sorgen, Juno nicht glücklich. Ging der Streit um "das Glück"?

"Überhaupt aber beruhen neun Zehntel unsere Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses ..."
(SCHOPENHAUER 1974, S. 18)

Andererseits hängt das Glücksempfinden auch von der "Grundstimmung" ab: Wenn einem mürrischen Griesgram von zehn Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das eine misslungene: Der Heitere weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und aufzuheitern. (vgl. a.a.O., S. 20)

Der letzte Vergleich ging auf PLATO zurück, aber die heiterste Philosophie erheitert nicht mehr im Streit zwischen Grieskrämern und Unglücklichen.

Völlig untauglich wäre jede Form der unfreiwilligen Belehrung; auch ist der Unterschied zwischen "Erwartung" und "Vorhaben", Passivität und Aktivität, zu beachten.

"Von dem, was einer ist" lautet das Kapitel, aus dem gerade zitiert wurde; "Von dem, was einer hat", das nächste. Ob Junos "Unglück" aus diesem Zusammenhang enstanden war, lassen wir hier offen.

 

.

Wir sollten hier nicht von "der Frau" und "dem Mann" sprechen; es geht mehr um das "männliche Prinzip" und das "weibliche Prinzip"; Tiresias steht hier für die Möglichkeit der Fluktuation beider Prinzipien und dafür, die Dinge nicht nach ihrem äußeren Anschein zu betrachten, sondern sich berichten zu lassen, zuzuhören und sich erst dann ein Urteil zu bilden.

Tiresias Objektbeziehungen

T - Tiresias konnte zunächst als Mann, "von Mann zu Mann", mit Männern (O =Objekten) kommunizieren und von Mann zu Frau (O = Objekt). Auch als Frau hatte er zwei Möglichkeiten. Nach der zweiten Verwandlung (der Rückverwandlung) waren seine Möglichkeiten verdoppelt, wenn er das weibliche Prinzip in seine Persönlichkeit integrieren konnte, bzw. verdreifacht, wenn die intra-personale Kommunikation gegeben war. Die Fähigkeit, zwischen den Standpunkten zu fluktuieren, ist unter der Voraussetzung, dass die Metamorphosen nicht verdrängt sind, anzunehmen.

Bisexualität ist vor diesem Hintergrund nicht so sehr, sich zu zwei Geschlechtern hingezogen zu fühlen, sondern die Fähigkeit des Empfindens und Erlebens sowohl im männlichen als auch im weiblichen Modus.

.

"Reine", unvermischte "Eingeschlechtlichkeit" gibt es weder bei den Einzellern noch bei den Menschen.

Dass "männliches" und "weibliches" Verhalten vor allem auf Konventionen beruht, hat OVID sehr deutlich in der "Liebeskunst" betont. Da dieses Werk vor den Metamorphosen entstanden ist, konnte es bei den antiken Lesern der Metamorphosen als bekannt vorausgesetzt werden.
OVID empfahl hier, sich der Denkweise des Gegengeschlechts anzunähern: "Als Frau möge der Liebhaber immer von der Schreiberin angesprochen werden, „sie“ möge es in euren Briefen anstelle von „er“ heißen."

Wie diese Übung die Denkweise verändert, kann jede(r) selbst herausfinden.


Wenn "die Menschen" mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben, gibt es doch jenseits, oder im Zusammenhang mit der biologischen Funktion auch Unterschiede zwischen Mann und Frau:

 

  1. Unterschiedliche Hormone bewirken im Allgemeinen ein dauerhafteres Interesse der Männer am Sex und bei Frauen, dass sie während des PMS sprunghafter und weniger berechenbar sind.
  2. Da bei Männern und Frauen im Allgemeinen unterschiedliche Gehirnhälften aktiver sind, ergibt sich bei Frauen durchschnittlich ein größeres Interesse der Frauen am Reden und ein größeres "sexuelles" Interesse der Männer.
  3. Aus der unterschiedlichen Beschaffenheit der Körper folgt eine unterschiedliche Erlebensweise, was Erotik und Sexualität betrifft.

 

Sie grämte sich, so berichtet man, über die Maßen und mehr, als es wert war, / Und verdammte die Augen des Richters zu ewigem Dunkel" (met. 3.333 - 3.335).

Zum "Ausgleich" für seine Blindheit wurde Tiresias von Jupiter die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, verliehen.

 

Tiresias' Beitrag in diesem Streit war allerdings recht erfolglos: Sein Vermittlungsversuch wurde nicht akzeptiert. Auf den widersprüchlichen Zusammenhang seiner Erkentnis(-möglichkeiten) und seiner Blindheit (gr. [w]oida = ich weiß /ich habe gesehen, ist verwandt mit lat. videre = sehen und dt. wissen) wies VOGT (1986, S. 95) hin; er sieht hierin eine Erhellung der erkenntnistheoretischen Struktur des Rätsels. Rätselhaft mutet es auch an, dass die Folge der göttlichen Strafe (durch die Göttin) das genaue Gegenteil seiner schon vor dem göttlichen Ausgleich (durch den Gott) gegebenen Fähigkeit darstellt.

Plausibel erscheint mir daher, dass die Blindheit, in der bildhaften Sprache des Mythos, Tiresias Eigenart, weniger nach außen und mehr nach innen zu "schauen", seine Fähigkeit zur Introspektion symbolisiert. Der eigentliche Ausgleich für die Strafe ist ein, von OVID allerdings nicht erwähntes, aber u.U. als bekannt vorausgesetztes

 

 

"langes, über sieben Menschenalter währendes Leben. Die Göttin der Unterwelt, Persephone, begünstigt ihn auf Intervention von Zeus noch dadurch, dass er nach dem Tod als einziger Sterblicher unter den Schatten der Unterwelt Verstand und Bewusstsein behalten darf" (VOGT 1986, S. 95).

 

Tiresias tritt noch nach seinem Tod als Weiser auf: Um die Rache des Poseidon zu besänftigen, will Odysseus, seinem Rat folgend, im Sinne eines Opferganges ein Ruder bis in eine Gegend tragen, in der man das Meer nicht kennt (vgl. HOMER 11/1970, S. 303 f.).

Tiresias' lebendiges Bewusstsein symbolisiert, dass seine Worte überliefert werden, wie auch sein über sieben Jahre währendes Leben den Rückgriff auf Wissen und Weisheit bzw. die Überlieferung vergangener Generationen versinnbildlicht.

 

Die Bedeutung der Metamorphose des Tiresias wurde von GALINKY, der die obige Jupiter-Juno-Episode als frivol, entspannt, unterhaltsam, "fehlfarbig-witzig" ansah, hervorgehoben:

 

 

"The very purpose which Ovid assigns this myth and by which it is linked to the preceding story should put us on our guard not to read it as a tragic lesson in psychopathologiy. The story of Narcissos is to prove the accuracy of Thiresias' prophetic gifts" (GALINSKY 1975, S. 52).

 

Die "frivol- unterhaltsame" Gestaltung dieses Themas dürfte neben der Hervorhebung der bedeutsamen seherischen Fähigkeiten des Tiresias den Zweck gehabt haben, im Streit der Götter dem Publikum ein tabuiertes Thema in heiterer Form nahezubringen. Gleichzeitig wird die Verbindung von Baccus zu Narziss gezogen: Liriope war die erste, die Tiresias befragte.

Da Narziss' Mutter, die "bläulichgelockte Liriope .... die erste Probe erhielt, dass sein Wort sich erfülle" (met. 3.341 f), wurde nach der mythologischen Einordnung OVIDs Narziss mindestens sieben Generationen vor Odysseus, und auch vor dem von OVID "ignorierten", gleichfalls mit Tiresias zusammentreffenden Ödipus ("Theben, des Ödipus Stadt, was ist es noch außer dem Namen?" [met. 15.429]), also in einer Zeit, als die dämonischen Gestalten noch am mächtigsten waren, geboren.

 

 

 


3/341 ff


Aber die bläulichgelockte Liriope war's, die die erste 

Probe erhielt, dass sein Wort sich erfülle: Sie hatte Cephisus

in sein gewundenes Flussbett gezogen, und dort in den Wassern

erlitt sie Gewalt, die reizende Nymphe. 

 

Narziss' Mutter:

Liriope

war Cephisus' Faszination erlegen, einfach gesagt: Auf ihn hereingefallen. Die Mutter des Narziss ist in den Sog des Flussgottes geraten - ihre Interpretation: Er hat ihr Gewalt angetan.

Er hat gezogen - da kann eine Nymphe doch nur nachgeben. Sie ist doch nicht selbst in das Wasser gegangen, hat sich doch nicht selbst in die Gefahr begeben ...

 

Männliche Gewalt ist damit zentrales Thema während Narziss' Kindheit; ob er - mit dieser Gewalterfahrung - seinen Vater je akzeptieren konnte oder eher ablehnen musste, sei dahingestellt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die zweimal erzählte Geschichte, zweiter Teil

 

Die bläulich gelockte Nymphe war in einer Hinsicht die Erste: Nämlich, dass des Tiresias' Wort sich an ihr erfülle.

Wie dieser Prophet zu seiner Fähigkeit gekommen war, ist eine Geschichte für sich:

Jupiter und Juno hatten wieder einmal Streit gehabt - es ging - ausgerechnet - um die Frage, ob die sexuelle Erfüllung beim Mann oder bei der Frau größer sie. (Zu große Erwartungen hat es also schon immer gegeben). Tiresias war zwar mit allen Wassern gewaschen, aber seine Diplomatie kam schlecht an: Neun Zehntel der Lust könne der Mann erleben, das letzte Zehntel aber nur die holde Weiblichkeit, und zwar als seelische Freude.

Er musste es ja wissen! Und dass er, kühner als heutige Sexual- oder Paarberatung, aussprach, oder zu wissen vorgab, was Juno , die von seelischer Freude wohl noch nicht einmal zu träumen wagte, nicht kannte (und Jupiter nicht konnte), machte ihn zu Junos Hassobjekt.

Dieser zweimal geschlechtsgewandelte Narr hatte Junos wunden Punkt getroffen, und hatte ihr doch nur nach dem Munde reden wollen.

Sie bestrafte diesen "soften Seher", diesen "Besserwisser", "xxxxxx xxxxxxxr" (was die reizende Göttin, einmal in Rage, noch gesagt haben könnte, bleibt der Phantasie der Leser überlassen - wenn heutzutage in der Nachbarschaft gestritten würde, verböte es unsere Diskretion, geaueres von dem, was wir ungewollt hören, zu berichten) mit Blindheit - wir könnten auch sagen, sie hatte in geblendet ... und Jupiter gab ihm die Fähigkeit der Prophetie, und ein Leben, das um den Faktor sieben verlängert war.
Was Tiresias von diesem Punkt an sagte, dürfte als verbürgte Weisheit gelten, zuvor - das war Selbsterfahrung und Spekulation, nichts, das beweisbar wäre.

Männlicher Empfindungsweise bleibt dieses letzte Quäntchen Lust verschlossen, nur den Frauen vorbehalten, die sich wegen diesem letzten Zehntel auch noch "in ihrer Seele" freuen sollen - Seelenfreundschaft etwa als höchste Lust und Freude an der Empathie und Freude, Freude zu bereiten? Hingabe?

Davon konnte Jupiter nicht viel bekommen haben, er stellte seine Frage schließlich "weinselig die schweren Sorgen beiseite schiebend".

 

 

 

Nun ist Narziss mit einem ungreifbaren Vater, von dem er nicht mehr weiß, als dass er ständig rauschend in einem Bett fließt, von einer besonderen Vaterlosigkeit betroffen, zunächst jedoch besteht eine Beziehung zwischen Cephisus und Liriope.

Das Bild des sexuell aktiven Flussgottes beinhaltet zum einen das Bild des über seine Ufer steigenden Flusses, zum anderen kann von ihm ein auf Liriope einwirkender Sog ausgegangen sein. Seine Gewalt kann darin bestehen, die "Eingeschlossene" den festen Boden unter den Füßen verlieren, sie untergehen zu lassen, in einen Strudel zu reißen etc..

" ... in den Wassern erlitt sie Gewalt,die reizende Nymphe ..."

In der Liebeskunst hat OVID das Gewaltvorurteil sehr deutlich hinterfragt. Dass Achill ein brutaler Vergewaltiger gewesen sei, sollen wir glauben, um die Konvention zu retten: So sagt man, um Liriopes Ehre zu retten, sie habe Gewalt erlitten.

Es geht um die Konvention der Geschlechterrrollen: Achill, für eine Episode der Krieger in Frauenkleidung, passt nicht in das offizielle Bild - es soll schnell wieder verdrängt werden; so etwas mag eine "Jugendsünde" gewesen sein, mehr nicht ...

Dass für die reizende Nymphe das "Spiel mit dem Feuer" auch seine Reize gehabt haben wird und die Gefahr auch eine Verlockung dargestellt haben mag, wird ausgeblendet.

Der Fluss verspricht immerhin, zu erfrischen, hat eine Aura von Weite und Ferne, spricht den Wunsch nach Veränderung, das Fernweh an.

 

 

 


Liriope und Semele (die Nymphen) bzw. Cephisus und Jupiter (als Götter) stellen affektive, an der Entstehung der Urphantasie beteiligte Figuren dar.

Die Gewalt des Cephisus repräsentiert nicht nur im Fall der Vergewaltigung Liriopes reale Angst, sondern kann auch für die von ihr empfundene sexuelle Angst (vgl. LOWEN 1979, S. 109 ff.) stehen - wie auch Cephisus' Gleichgültigkeit gegenüber seinem Sohn als (allzu) menschliche Eigenschaft "imponiert".

Wenn der Vater - Flussgott noch heute den ungeliebten / gefürchteten Urvater (in einer dann allerdings zutiefst unbewussten Bewusstseinsschicht) repräsentieren sollte, wäre die kollektiv begangene bzw. tolerierte Vergiftung der Flüsse allerdings ein bekräftigendes Indiz.
Vermutlich wurde schon dem Säugling wenig Liebe entgegengebracht:

 
[Narziss und Echo 2 - Vosssche Übersetzung]

 

 

3/345 f.

 

Schwanger geworden, gebar sie ein Kindlein, welches schon 
                                               damals


Liebe verdiente, und nannt' es Narcissus; ...



Hat er Liebe verdient oder nicht? Hat er bekommen, was ihm als Person zustand, oder hat er sich seine Liebe verdient, und wenn ja, was hat er dafür getan? Welche Liebe hat er bekommen - die, die ihm zugestanden hat? Warum kennt unser Sprachgebrauch den Ausdruck "verdiente Strafe", nicht aber "verdiente Liebe"?

Wir nehmen ja an, dass das Kind in der frühen Phase der "Dualunion" noch nicht zwischen sich und versorgender Instanz unterscheidet - es ist sozusagen "eins" mit der Mutter, in höchstem Maße angepasst (Oder die Mutter ist an das Kind angepasst ... oder an das, was sie von ihm wahrnimmt).

Das Kind reagiert auf Reize, die von innen oder außen kommen - was aber noch nicht differenziert werden kann. Sein "Verdienst" kann lediglich darin bestehen, so zu reagieren, wie es von ihm erwartet wird; wo eine Reaktion ist, gibt es einen Stimulus, von Anfang an sind bestimmte Reaktionen bei ihm ausgelöst und eingeübt (durch Belohnung "verstärkt" usw.) worden, oder Muster angelegt worden. Liebe war keine Selbstverständlichkeit, Liebe konnte er nur empfangen, so lange er sich verhielt, wie erwartet.

In dieser Metamorphose geht es um die Verwandlung in eine Pflanze, die sich über die Namensgebung schon von Anfang an abzeichnet. Wenn es bei der Verwandlung in ein Tier um menschliche Ängste, Phobien gehen sollte - der Arachne-Mythos spricht dafür, symbolisiert die Pflanze eher das "Wesen" des Verwandelten.

 

Liriope gab Narziß seinen Namen - der ist wortverwandt mit "Narkose".

 

"Die Pflanze ist ursprünglich persisch und heißt nargis. Der
Name gelangt ins Griechische und wird wegen des betäubenden
Duftes der Blüte angelehtn an griechisch narkan 'starr, ge-
lähmt werden' (wozu narkotisch und Narkose; ... So entsteht
narkissos bei Homer usw., das seit Vergil als narcissus im
Lateinischen erscheint. Der griechisch-latieinische Mythos vom
Jüngling Naziß (bei PAUSANIAS und OVID) ist erst aus der
Blume entwickelt" (vgl. Kluge 21/1975, S. 203).

 

Aus der Bedeutung des Namens: starr, gelähmt werden, wie narkotisiert sein, unbeweglich, gefühllos, ergibt sich, welche Eigenschaften Liriope sich für ihren Sohn wünscht, setzt man voraus, dass sich in der Namensgebung die Idealvorstelung der Eltern ausdrückt. Gleichzeitig erkennen wir einige Eigenschaften von Liriope selbst.

Die Unterdrückung von Schmerzen wird zum Merkmal. Das Fühlen und spüren ist unter Narkose gemindert. Es gibt seelische Schmerzen und Seelenqual, deren Wahrnehmung war Narziß' Sache nicht. Narkotika können die Wahrnehmung verändern, glückhafte Momente im Rausch, dessen Eindrücke stärker als die Realität werden können, vorgaukeln, und/oder abstumpfen, gleichgültig machen.

Wer keinen Schmerz empfindet, braucht keinen Trost, wirkt unabhängig und stolz; so könnte sich die "Grandiosität" erklären, die manche ausstrahlen und von Anderen mehr oder weniger bewundert wird.

 

met. 3.346 - 3.348

Liriopes Lebensangst drückt sich in ihrer Frage an Tiresias aus:

"... und als man den schicksal- /kündenden Seher befragte, ob je 
dieser Knabe zu hohem / Alter gelange, ..."

Einen Seher, Wahrsager zu befragen bedeutet, sich in einer ernsthaften Krise zu befinden. Liriope muss ernsthafte Zweifel gehabt haben, ob ihr Sohn (der Säugling?) überhaupt überleben werde.

An ihrem geringen Selbstvertrauen hat auch die Mutterschaft nichts geändert.

 

Die Urliebe, die "primäre Liebe" bereits ist fragil, gefährdet. Die Zweifel werden an der Gesundheit "festgemacht", denn das Kind könnte ja einen "Fehler" haben. Den elterlichen Ansprüchen soll das Kind schon entsprechen, pränatale Diagnostik mit Fruchtwasseruntersuchung, Chromosomenbestimmung und ggf. Schwangerschaftsabbruch stehen in der Tradition, über Überlebenschancen zu entscheiden; der "medizinische Fortschritt" beginnt gerade.

Wir verhalten uns, entsprechend unseren Erwartungen. Liriopes Erwartung war eher undefiniert, mit Sicherheit aber ging sie davon aus, mit ihrem Sohn könne etwas nicht stimmen, vielleicht dachte sie auch, etwas müsse nicht stimmen.

Zweifel auszuräumen, nicht zu säen, ist die eigentliche Aufgabe des medizinischen Personals, oder Beratung und Aufklärung, nicht Verunsicherung.

...

Der Schwangerschaft als Zeit der Erwartung, hoher Erwartungen folgt der Moment, wo sich zeigt, ob die Erwartungen sich erfüllen. Dass Liriope nach der Geburt in eine Kindbettdepression gefallen wäre, lässt sich nicht belegen; dass sie "die Kapazität für Schicksalsfragen" konsultierte, ist überliefert.

Hätte Liriope wissen wollen, ob ihr Sohn gesund ist, wäre eine heilkundige Person zuständig gewesen. Sie vertraut nicht dem normalen Ablauf der Zeit, rechnet damit, dass Narziss zur Unzeit sterben könnte und will oder muss einen Blickin die Zukunft werfen. Sie hat Zukunftsängste, Ängste um ihr Kind, vielleicht auch vor dem Kind und vor und um sich selbst.

Tiresias, dem Kaffeesatzleser, der sieben mal länger als Andere leben wird, stellt man die Frage nach der Lebenserwartung eines Kindes ...

Wer dumm fragt, bekomt eine dumme Antwort, sagt das Sprichwort. Ist der Patient krank, fragt der Arzt üblicherweise, was fehlt.
Die Frage nach dem Mangel, dem Defizit steht also im Vordergrund der Behandlung. Die Beratung mag sich auch auf die Lebensumstände beziehen.

Die alleinerziehende Liriope darf keine zu enge Beziehung zu ihrem Kind aufbauen - wenn sie überhaupt eine aufbaut, und das Kind nicht als Fremndkörper ansieht.

 

Dass sie dem Wahrsager diese Frage stellte, heißt, dass sie selbst nicht mehr weiter wusste und erweckt den Anschein, als wolle sie die Entscheidung über das Weiterleben des Sohnes delegieren, also ihre Verantwortung (die der alleinerziehnden Mutter vielleicht zu drückend war) abgeben.

Dies ließ Tiresias jedoch nicht zu; er antwortete: "Ja, wenn er sich fremd / bleibt!"

Das Orakel muss sich erfüllen, auch wenn der Seher nicht konkret in die Zukunft schauen kann - und so kann/darf er auch nicht mit einem Ja oder Nein antworten. Dieser Schwierigkeit entzieht er sich, indem er eine universelle Bedingung nennt, die zugleich Thema der Geschichte ist. Er selbst hat ja eine von einem Gott gegebene Garantie, "sehend" alt zu werden ...

Paradox wirkt auch, dass Tiresias, der ja, aufgrund seines bewegten Vorlebens, mehr erlebt hatte als Andere, sich besser kannte als Andere trotz und wegen dieses Mehr-Wissens alt werden würde.
Sein Fluktuieren zwischen den Geschlechtern bliebe immer noch ein "sich fremd-bleiben", ein Bezogen-sein auf das andere Geschlecht, auf das Gegenüber, nicht auf sich selbst.

Noch in der innigsten Interaktion war er sich fremd geblieben, mochte er auch sein Gegenüber "erkannt" haben.

 



Indem Tieresias auf das Problem der Fremdheit in der Mutter-Kind-Beziehung hinweist, gibt er Liriope gewissermaßen ihre Verantwortung zurück. Weniger als beim Streit der Götter lässt er sich hier festlegen, sondern er antwortet mit einer paradoxen Intervention.

Tiresias Auskunft ist zweideutig. Digital und analog zugleich, könnten wir sagen - wir verstehen nicht wirklich, was seine Antwort bedeuten soll. "Solange er ... bleibt" deutet auf einen Zustand hin, der sich verändern kann.

Etwas ist, und wird eine Weile so bleiben, wie es ist: Narziss Fremdheit. Nun heißt es nur scheinbar, er sei sich selbst fremd, und es erscheint gewaltig überzogen, in diesem frühen Stadium an eine Selbst-Entfremdung zu denken - gleich, wie auch immer wir das "Selbst" verstehen, ist es eine Struktur, die erst noch entstehen muss.

Tiresas Aussage bezieht sich auf das "Heute" und auf das "Morgen". In der Gegenwart ist Narziss nicht sich selbst fremd, aber für seine Mutter fremd wie ein Fremdkörper.

Tiresias diagnostiziert hier gleichsam eine gestörte Dualunion, ein Kernproblem, das Narziß wohl behalten muss: Einen Riss, eine Kluft in der Mutter-Kind-Dyade.

Da er seiner Mutter fremd ist, ist sein Dasein nicht selbstverständlich; Die Kluft in der Mutter-Kind-Beziehung überträgt sich auf andere Beziehungen, selbst, wenn sich der Wunsch, mit dem Gegenüber zu fusionieren (die Getrenntheit aufzuheben) einstellen sollte.

Liriope hatte zweifellos ein Problem. Hätte Tiresias nun geantwortet: "Ja, wenn er Dir (oder Du ihm) fremd/fern bleib(s)t", hätte dies die Verunsicherung der jungen Mutter sicherlich noch gesteigert.

Da das gerade geborene Kind ein Du noch nicht kennen oder unterscheiden kann, ist Tiresias' Aussage auch vollkommen ausreichend.

Wie es unter den gegebenen Umständen eine "normale Entwicklung" durchlaufen und ein Urvertrauen aufbauen soll - das wäre hier eine nur rhetorische Frage: Das Urmisstrauen liegt bereits bei der Mutter vor.


Die Fremdheit wird Narziss erhalten bleiben, er wird sich selbst fremd sein, aber nicht unbedingt bleiben.

Nehmen wir die Begriffe "wahres Selbst" und "falsches" Selbst einmal als für unsere Zwecke genügend anschaulich an, lässt sich sagen, dass die Selbstentfremdung nicht ewig andauern muss, sondern man notfalls noch im hohen Alter zum wahren Selbst finden kann.


Verleugnung und Verdrängung sind wohl die wichtigsten Mechanismen, um die Fremdheit aufrechtzuerhalten, auch die Abspaltung und andere Abwehrmechanismen ...

 

 

 


Ausdrücklich weist OVID darauf hin, dass "das Orakel" bedeutsam ist: "Lange schien nichttig das Wort des Propheten, doch bracht' es der Ausgang / endlich zu Ehren: Ein seltsames Rasen, ein sinderbar Sterben!" (met. 3.349/3.3.350).

Wenn Narziss am Ende der Geschichte sich nicht fremd belibt, so wird er sich im Mittelteil, der nicht minder spannend sein soll, nicht nahe kommen. Diese Geschichte spielt in der Pubertät:

"sechzehnjährig war er geworden, de Sohn des Cephisus,
Und bald schien er ein Knabe zu sein, bald wieder ein Jüngling.
Liebende Sehnsucht erregt' er bei vielen, bei Jünglingen, Mädchen;
Doch es beseelte den Körper die sprödeste Härte:
Niemand vermochte den Schönen zu rühren, Kein Jüngling, kein Mädchen."
(met. 3.351-3.355)

 

Diese " spröde Zärtlichkeit, die spröde Härte des zärtlichen Körpers " ist ein Widerspruch in sich, der auch durch die Schönheit des Unberührbaren kaum zu erklären ist. Vermutlich - der Mythos behandelt die narzistische Problematik - haben wir es hier mit einem Merkmal des narzistischen Charakters zu tun. Möglicherweise zeichnet diese spröde Zärtlichkeit auch den neuen Sozialisationstypus aus; Er wäre dann gar nicht so neu.

Was aber macht Narziss dann auf der Jagd?

"Jetzt, als er flüchtige Hirsche im Netz zu jagen versuchte, sah ihn die klangreiche Nymphe, ..." (met 3. 356/3. 357).
Trotz der schnellen Überleitung zur Echo-Episode soll diese Frage nicht vernachlässigt werden kann; nur kann man sich heutzutage, wo alle Jagdreviere vergeben sind, Jugendliche in diesem Metier nicht mehr vorstellen; dennoch wirkt ein amerikanischer Spielfilm von 1955 auch hierzulande noch nicht antiquiert:
In " denn sie wissen nicht, was sie tun", sagt Plato über seinen älteren Freund Jim (James Dean): "Vielleicht nimmt er mich nächsten Sommer zum Jahren mit - und zum - Fischen. " Beide machten durchaus nicht den Eindruck von Jägern und Fischern, sondern waren altersgemäß dabei, sich eine Freundin zu suchen: Jim war für Plato ein Vorbild.

In ARGELANDERs "Der Flieger" zeichnet sich ein Zusammhang zwischen 'Jagdverhalten und Ich-Entwicklung' ab. Der "Flieger" lernte in einem frühen Stadium die Jagd kennen.

"Zum erstenmal erlebte er dort auf einsamer Pirsch, wie er 'eins mit der Natur' wurde. Hier war er Alleinherrscher im Revier und fühlte sich mit der Natur verbunden und vertraut" (ARGELANDER 1972, S. 46).

Von Abschüssen wird aus dieser Zeit nicht berichtet. Später, nachdem er schon einige Zeit in Therapie ist, kauft er sich ein neues Jagdgewehr.

"Nachdem er ... einen Bock freibekommen hatte, erlegte er innerhalb einer Stunde einen kapitalen Bock durch Blattschuss, den seine Jagdgefährten schon seit einer Woche verfolgten."

Nicht lange darauf "stellte sich der so lange vermisste (berufliche; d. Verf.) Erfolg wieder ein, ... und nach langer Pause nimmt er wieder den intimen Verkehr mit seiner Frau auf" (ARGELANDER 1972, S. 50).

Ergibt sich hier lediglich ein loser Zusammenhang zwischen 'jadlichen', geschäftlichen und sexuellen Erfolgen und Misserfolgen, wird die Mehrdeutigkeit der Symbolik der Jagd bei OVID evident:
Schon in der "Liebeskunst" benutzt OVID den Begriff der Jagd im übertragenen Sinne:

"Es gibt so viele Charaktere wie Gesichter. Wer klug ist, wird sich unzähligen Wesensarten anpassen können ... . Manche Fische werden mit der Harpune gefangen, andere mit Angelhaken, wieder andere werden von geräumigen Netzen am strammen Seil fortgeschleppt. Ebenso wenig wird zu jedem Lebensalter ein und dieselbe Methode passen; ein bejahrte Hirschkuh wird den Hinterhalt schon aus größerer Entfernung erkennen" (ars. 1.759 - 1.767).

 

 

 

 

 

 

 

 

Eigentlich sind wir ja daran gewöhnt, wenn wir etwas fragen oder sagen, eine Antwort zu bekommen, aber manchmal bleibt selbst das Echo aus. Ein Phänomen, das darin seine Erklärung finden könnte, daß -verständlicherweise- wohl niemand die Rolle des, bzw. der Echo(s) spielen möchte.

Hat bei Echo eine besondere Art der Sprachzerstörung stattgefunden, ist sie "einfach" auf einer frühen Stufe der Sprachentwicklung stehengeblieben? "Echolalie" wird doch nicht ihre Krankheit sein?

 

 

 

Echo und Narziß

 

Echo war bei ihrer Begegnung mit Narziß noch ein "körperliches Wesen", und nicht nur Klang und Schall, aber schon damals konnte sie nicht von sich aus ein Gespräch beginnen. Von vielen Worten, die jemand sprach, konnte sie nämlich nur die letzten wiederholen.
Juno hatte das so angeordnet, weil Echo oft, wenn Junos Gatte sich auf den Bergen mit Nymphen vergnügte, die Göttin in voller Absicht durch lange Gespräche aufhielt, damit die Nymphen währenddessen entwischen konnten.
Nachdem Saturnia dies durchschaut hatte, sprach sie: "Über diese Zunge, die mich genarrt hat, sollst Du von nun an nur wenig Macht haben und deine Stimme nur noch ganz kurz gebrauchen dürfen."

Es blieb nicht bei der Drohung - aber immerhin kann Echo die Laute am Ende einer Rede wiederholen und Worte erwidern, die sie gehört hat.
Kaum hat sie also Narcissus erblickt, der - abseits des Weges - durchs Gelände streifte, verliebte sie sich "unsterblich" in ihn. Heimlich verfolgt sie ihn, und je länger sie ihm nachläuft, desto mehr läßt seine Nähe sie entflammen.

Sie hätte sich ihm ja gerne genähert, ihn liebevoll angesprochen und ihn durch Bitten erweicht - aber das ist nicht ihr Stil! Ihr Wesen erlaubt ihr nicht, den Anfang zu machen. Sie kann nur eines: Laute, auf die sie antworten kann, abwarten.
Und scheinbar war es der reine Zufall: Narziß hatte sich, weit von seinem üblichen Gefolge distanziert, bei der Jagd verlaufen - wahrscheinlich wollte er Fallen stellen, flüchtige Rehe mit Netzen fangen.
"Ist jemand hier?", hat er gerufen, und "Hier" hatte Echo geantwortet.
Er ist erstaunt, schaut sich um, und ruft mit lauter Stimme: "Komm!" Sie ruft ihn, wie er sie ruft. Weil wieder niemand kommt, spricht er: "Meidest Du mich? Was fliehst Du vor mir?" - und erhält die gleichen Worte zurück. Narziß, durch den Widerhall der antwortenden Stimme getäuscht, spricht stur weiter: "Wir wollen hier uns vereinigen" - und es gab wohl nichts, was Echo lieber gehört hätte.
Mit den Worten "Hier uns vereinigen" kommt sie, im Vertrauen auf ihre Worte, aus dem Wald, geht auf ihn zu, um schnell den Hals des Ersehnten zu umarmen - er aber flieht und schreit:
"Fort! Hände weg! Laß die Umarmungen! Eher will ich sterben!
Du meinst, Dir würd´ ich mich schenken?"
Sie antwortet nichts als die Worte "Dir würd´ ich mich schenken!"

Der Wald wird zum Versteck der Verschmähten, niemand soll mehr ihr schamübergossenes Gesicht sehen; sie haust seither in einsamen Grotten. Doch kommt sie von ihrer Liebe, die aus Schmerz über die Kränkung und Zurückweisung noch stärker wird, nicht los. Sorgen, die zu quälenden Leiden werden, zehren den Körper jämmerlich aus: Der Leib magert aus, die Haupt schrumpft, die Körpersäfte verflüchtigen sich in die Luft. Nur Stimme und Knochen, die sich in Steine verwandelt haben sollen, bleiben von ihr erhalten.

 

 

 

 

Das echte und das falsche Wir

 

met. 3.356/357

... die klangreiche Nymphe, die niemals schwieg, wenn ein anderer
Sprach, doch niemals begann, die wiedertönende Echo.

Echo war zum kommentieren stets fähig, nicht aber, ein Gespräch aus
eigener Initiative anzufangen. Ob es ihr an Themen, oder an Selbstsicherheit
fehlte? Sie musste "überall ihren Senf dazugeben".

met. 3.358-3.362

Damals war Echo ein körperlich Wesen und nicht eine Stimme:
Doch die Geschwätzige sprach nicht anders als heute: von vielen
Worten vermochte sie nur die letzten wiederzugeben.
Das war Junos Verhängnis ...

Echo behielt für sich, was sie wusste und was für ihr Gegenüber von Interesse
gewesen wäre. Einwände, Widerspruch, Korrektur gab es von ihr nicht.
Junos Bestrafung war hier überflüssig, verdeutlichte nur Echos Status.
Echos stetige Bestätigung konnte jedoch auch ein Verhängnis sein - für
den Sprecher, die Sprecherin, die meinten, ein Gespräch zu führen, die
meinten, verstanden zu werden, und ihre Sicht der Dinge sei verständlich,
gut nachvollziehbar, berechtigt.
Echo war ja nie kritisch, sondern stets "verständnisvoll", zustimmend,
bejahend.
Verließ man sich auf Echo, konnte das Unheil seinen Lauf nehmen. Was Echo
riet, hatte man zuvor selbst geraten - ob man das Richtige geraten hatte,
würde sich zeigen, konnte man nicht wissen, was man riet, war einseitig,
in Echo eine zweite, unabhängige Instanz zu sehen, war ein verhängnisvoller
Fehler, sie überprüfte nichts, stimmte aber immer zu.

 

met. 3.362-

(Juno) ... hätte gar manche der Nympen ,
Denen ihr Jupiter sich in den Bergen gesellte, ertappen
Können ...


Die Selbsterkenntnis gibt dem Menschen das meiste Gute,
die Selbsttäuschung aber das meiste Übel.


- Sokrates

 

Juno hat, wie wir alle, ihre blinden Flecken, "lügt sich selbst in die Taschen". Jupiter konnte nicht präzisieren, worunter er litt.

Dass sie selbst begriffen hätten, dass sie unglücklich waren, darf bezweifelt werden.

 

met. 3.364

... doch sie ...

Doch, doch, das "Doch" wiederholt sich. Und doch - wider alle Erwartungen, ist etwas anders, als man denkt. Echo hat sich schon immer so verhalten, wie sich ein(e) Echo verhält, sie hat nie etwas anderes gelernt, als zu antworten. "Warte, bis man Dich fragt, und fang nicht von Dir aus ein Gespräch an". Das hat sie gelernt. In gewissen Beziehungsformen gilt das noch heute, wo ein Machtgefälle herrscht, darf der Chef sitzen, der Untergebene steht vor dem Schreibtisch, der "Schwächere" zieht zuerst den Hut, wirkliche Prinzessinnen sprechen nicht von sich aus ihren Helden an, sondern warten 100 Jahre, in denen die Zeit still steht, bis sie aufgefordert werden.

 

 

met 3,364

Geplauder und Strafe

Echo lenkte Junos Aufmerksamkeit von den Eskapaden des Jupiters ab: Sie

"hielt klüglich die Göttin in langem Geplauder fest".

Inhaltlich mögen diese Unterhaltungen austauschbar und unerheblich sein - geeignete Themen wären etwa der übliche Klatsch, wer (will) mit wem und wem und was, wie kriselt es in anderen Beziehungen, wer verbreitet welche Gerüchte. Das "Geplauder" ist Gerede, Geschwätz, Tratsch. Echo ist anpassungsfähig wie eine selbst erzeugte Wolke vom Klängen und Lauten.

Juno und Echo sind in eine weibliche, gegenseitige Hassliebe verstrickt, verbunden durch die Konkurrenz und das Bild, wie der Mann sei oder zu sein habe.

Echo deckt ihre Gespielinnen, kann sich identifikatorisch an deren erotischen Tun beteiligen, ohne ein Verbot zu übertreten, und findet Themen, die noch die Göttin faszinieren. Wir können uns hier keine gleichberechtigten Gespräche innerhalb einer erwachsenen Beziehung vorstellen - Echo macht sich wichtig, oder erzählt von anderen, die dies tun.
Ihrem Motiv, von den wirklichen Verhältnissen abzulenken, entspricht die Neigung der Göttin, sich ablenken zu lassen, nicht hinzuschauen, was der Andere treibt - allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze, bis wieder einmal das Maß voll ist, und sie in irgendeiner Form reagieren muss.
Weder die Göttin noch "ihr Echo" können über ihre Nöte mit dem anderen Geschlecht kommunizieren, aber sie unterhalten sich, befangen im Schneewittchen-Komplex. "Wer ist die Schönste im Land?"

Wenn wir den Mythos wie einen Traum interpretieren wollen, müssen wir die Wirkung der Traumzensur berücksichtigen. Eine Göttin, die Böses im Schilde führt - das könnte den Schlaf stören, das müsste zensiert werden. Als ausgesprochene Möglichkeit ist dies im Märchen merkwürdigerweise möglich.


Sie reden um den heißen Brei herum, kommen nicht zur Sache, das ziehen sie aber in die Länge. Sinn des Geplauders ist die gegenseitige Schmeichelei, das "Schön-reden" des ungenannten Problems - die Eine möchte, hat aber keinen Zugang zu "den Männern", die andere hat einen, aber ...

Echo ist eine Nymphe, die au der Art geschlagen ist, eine, da sie sich nicht selbst und jedermann anbieten kann, verhinderte "Nymphomanin".

Im Märchen treten die Aspekte der Konkurrenz, tritt der (Schwieger-) Mutter-Tochter-Konflikt wesentlich deutlicher zu Tage, geht es um die Frage: "Wer ist die Schönste im Land?"

Mit Echo kann man nicht viel mehr als ein Selbstgespräch führen, oder einen opportunistischen Dialog nach dem Muster: "Was sagst Du dazu?" - "Da muss ich Dir voll und ganz zustimmen!"

Echo betrügt nicht selbst, identifiziert sich aber mit jenen, die es tun. Das verführerische Spiel der doch nur bedingt verführerischen Nymphen ist aus, wenn sie erwischt werden. Mit ihrem schönfärberischen Geplauder verhindert Echo, dass die Wahrheit aufgedeckt wird - und Juno will sie auch nicht wirklich wissen.

 

"Geplauder" - das sind unverbindliche Gespräche, die keine Verbindlichkeit schaffen, Gespräche, die nichts kosten und nichts bringen, außer Zeitvertreib, also eine "kurze" Flucht vor der Langeweile. Man bleibt an der seichten Oberfläche, bestätigt sich ein wenig - es geht nicht um Erkenntnis oder Veränderung, nicht um eine neue Sichtweise, nicht um Einsicht und Konsequenz. Wo es um die Fassade geht, werden - auch unter Männern - schon mal die Fakten geschönt. "Ja, so zwanzig Teilnehmer sind im Kurs", meinte einmal ein Prof. im "Turm der Wissenschaft" zu einem Kollegen, und hatte gerade eben mal mit vier multipliziert.

"Unter Männern" tritt, rollenbedingt, die Rivalität eher an die Oberfläche. Hierarchische Strukturen kanalisieren das Konkurrenzverhalten, oder es wird z.B. im Sport ritualisiert ausgelebt. Die lebhafte Solidarität der Frauen ermöglichte sogar eine Frauenbewegung, da besser gemeinsam gegen einen Feind kämpfen ist, als gemeinsam ein "exklusiver Besitz" zu erwerben.

 

 

Zwischen Echo und Juno hat ein regelmäßiger Meinungsaustausch stattgefunden, beide hatten also ein gegenseites Interesse aneinander, haben auf irgendeine Art und Weise voneinander profitiert.

Wenn Echo die Gefühle des Anderen artikuliert, ist es nicht immer einfach, zuzuordnen, wessen Gedanken sie ausspricht. Sie spricht scheinbar von sich, für sich, spricht über Liebe und Sehnsucht, ersehnt wohl die Liebe, und dabei bleibt es.

Was Juno und Echo sich gegeben haben, war nichts, das ihnen weitergeholfen hätte - Echo hat Juno nicht aus ihrem Teufelskreis befreit, Juno hat nicht verhindert, dass Echo jämmerlich gestorben ist.

met. 3.365

Fest, bis die Nymphen entwichen. Als dies Saturnia bemerkte

Woher sollen wir heutzutage wissen, welche Eigenschaften die Nymphen haben?

"Das Spiel der Nymphen" heißt dieses Bild von Arnold Böcklin, und so können wir uns vorstellen, dass die Nymphen nur spielen wollten, sicher nicht ohne Wollust, aber der Reiz des Spiels scheint sich auf das Vorspiel, die Vorlust, zu beschränken; wo es weiter gehen soll, entweichen die Nymphen, wie unser Text implizit mitteilt.

Doch sollen wir ...

Uns ärgern, dass schon die Najaden
Erfanden das Familienbaden?

Eugen Roth

Die Frau in der Weltgeschichte

 

 

 

 

Juno spricht eine Strafe aus, die schon längst vollzogen wird - das ist ihr aber nicht aufgefallen. Mt dem Urteil, das sie spricht, zeigt sie, wie schlecht es um ihre Urteilsfähigkeit bestellt ist. Sie bestraft eine Person, die schon längst bestraft ist, nimmt Echo eine Fähigkeit, die diese gar nicht hat: Eine Phantomstrafe.

Es ist wie ein schlechter Voodo-Zauber; die Verwünschung tritt scheinbar ein, wenn die Krankheit bereits vorliegt: "Ich wünsche Dir, das Du leidest, wie auch ich leide".

 


 

Nachhall ... "Haut und Knochen"; Anorexie; Knochen - Gerüst, Skelett: Struktur und Hülle;
Stimme - Atem, ausatmen, Resonanz finden, eigene Stimme - eigene Inhalte, Stimme - Souverän, Rechte, Bürgerrrechte - Stimme abgeben, zustimmen/ablehnen, einstimmen, Duett - Kanon: Die zweite Geige, die geführte Stimme, sich auf etwas einstimmen, vorbereiten, Stimmung

Wenn wir Echo als Komplementärnarzisstin bezeichnen, soll dies nur allgemein bedeuten, dass sie ihn ergänzt, wie es zuvor die Rolle des "Gefolges" war: Einem Narzissten, der nicht bewundert wird, fehlt etwas, aber bestimmt nicht die Nähe, die Echo sucht.
Narziss als Ergänzung zur Echo, als "Komplementärecho" anzusehen, schließt sich mit der Frage aus, welches Echo wir von einem Narzissten zu erwarten haben und trifft zu, solange Narziss die Gedanken Echos vorwegnimmt.

 

 

 

Im Zusammenhang stellt sich die Frage: Was ist eine Metamorphose?
Es ist die Beschreibung einer Verwandlung - ist es auch eine, die wir uns so vorstellen können? -

Es gibt unzählige Steine, unzählige Echos: Das macht die Episode universell.
OVID hat ungefähr so viele Metamorphosen beschrieben, wie das Jahr Tage hat. Menschliche Charaktere, sagte er an anderer Stelle, gebe es jedoch so viele wie Gesichter.
Neben den mythischen Verwandlungen kennen wir noch die märchenhaften, etwa vom Frosch zum Prinzen, vom Aschenputtel zur Königin, und die Metamorphose in der Biologie, etwas von der Raupe zum Schmetterling.

Auch die mythologische Metamorphose dürfte von dem Übergang von einem Entwicklungsstadium ins andere handeln. Mythologie ist zwar die Kunst, von Göttern zu erzählen; da diese auf die Menschen einwirken, erzählt sie letzlich vom Menschen.

 

Narziss will nicht berührt werden - weder von Echo, noch von Ameinias. Sein Distanzbedürfnis macht ihn interessant; Er wirkt frei und ungebunden, das weckt Begierden. Mal hat er ein treues Gefolge, mal nicht. Kann heißen: Es gibt solche und solche Narzissten.

Gibt es Zufälle, oder nur Ursache und Wirkung?

"Einmal verlor er durch Zufall sein treues Gefolge". Ist er ein Anführer, oder "nur" autonom?

Wenn er zufällig alleine ist, hat er sich auch nicht fürs Alleinsein entschieden. Vielleicht hat er eine Münze geworfen, ausgewürfelt, ausgependelt; was er eigentlich will - das kann er vielleicht gar nicht entscheiden.
Wenn es im zwischenmenschlichen Bereich mehr nach Gesetzmäßigkeiten als nach chaotischen Prinzipien zugeht, war die Erklärung über den Zufall nur eine Scheinerklärung, die uns über die Verlegenheit, den wahren Sachverhalt wahrzunehmen, hinweghilft.

Den Wunsch nach Hingabe verachtet er, lässt er nur bei sich und für sich zu. "Was kann Eine, die sich ohne Gegenforderung anbietet, schon wert sein?"

Echo sucht die Nähe, kann sich aber nicht von sich aus artikulieren (Juno hatte Echo mit der Krankheit bestraft, von der sie selbst befallen war); für Narziß bedeutet Nähe: Sich-aufgeben, ausliefern, verkaufen - schließlich musste er sich "das bißchen Nähe" ja schon immer verdienen.

Echo ist es, die die Symbiose wünscht, ist diejenige, die kein bißchen Autonomie aufbringt, sondern im Gegenteil den Wunsch hat, sich zu verschenken - vielleicht, sich hinzugeben, vielleicht, sich in Besitz nehmen und unterwerfen zu lassen.

Narziß' Wunsch nach Symbiose kommt später zum Tragen.


Echo versteckt sich, zieht sich zurück: Aus Scham, wegen der Beschämung, nicht angenommen worden zu sein, samt ihrem Begehren - das ist ein Verhalten, das zum Tod führt. Wenn wir fragen, wie ihr zu helfen gewesen wäre, wird es jedenfalls schwierig. Die "Rekonstruktion der Sprachzerstörung" mag zwar das Ziel heutiger Therapien sein, diese setzten allerdings die Fähigkeit, gedankliche Assoziationen auch zu äußern, voraus.

Was macht man mit Leuten, die nicht in der Lage sind, von sich aus ein Gespräch zu beginnen, von sich zu erzählen?

Die Struktur der Narziß-Echo Episode zeigt es auf: Kleine Schritte und Fragen könnten zu einem Gespräch führen. Aber Narziß, voller Angst um "seine" Distanz und verständnislos, war ja nicht in der Lage, einmal ein Verständnisfrage zu stellen, etwa: "Wie meinst Du das? Wie soll ich das verstehen?"

Nicht nur Frauen, auch viele Männer beißen sich lieber die Zunge ab, als über etwas heikles, mit Scham verbundenes, zu sprechen. Der nachzugehen, kann zwar zur Lust führen - wenn keiner mehr diese Hürde überschreitet und spricht, geraten beide auf eine schräge, abschüssige Bahn, die bei Juno und Jupiter zum ehelichen Zölibat geführt hatte.

Lange Gespräche, deren Zweck nur darin bestand, von dem, was war, abzulenken, nicht hinzuschauen, was ihre Bedürfnisse waren, hatte Juno ja durchaus geführt. Schon bei diesen Gesprächen mit Juno wird Echo eine ziemliche Echo gewesen sein, immer der Juno zugestimmt haben - letzlich mit der Absicht, die Kluft zwischen Juno und Jupiter zu vertiefen. Vielleicht hat sie Juno auch von wirklichen oder erfundenen Affären erzählt - und damit doch nicht Jupiters Sympathie erlangt, denn bei ihr hat er keine Kompensation für die Bestrafung durch seine Gattin erbracht.

 

 

These: Ein Narzisst antwortet nicht. Sein Motto: "Mich kriegst Du nicht!" Sein Spiel: "Fang mich doch, Du Eierloch!"

Andererseits: Von Anfang an hat es Zweifel an seiner Integrität gegeben (ausgedrückt in der Befragung des Sehers durch die Mutter).

Solche Zweifel müssen zum Selbstzweifel führen. Von Anfang an nicht (ganz) angenommen, mithin abgelehnt und zurückgewiesen erklärt sich die narzisstische Zurückweisung als Wiederholung des Erfahrenen am Gegenüber.

Narziss erregt:

"Liebende Sehnsucht erregt er bei Vielen"

Je mehr er den Andern an sich bindet, desto mehr kann er ihn kränken, desto mehr Lustgewinn aus der Kränkung ziehen.

 


 

"Narzissmus" - das ist wie eine Kamera ohne Objektiv?

 

 

met. 3/402 f.

  Also hattte er diese und andere Nymphen der Wasser 
Oder der Berge getäuscht, so früher die Männer verachtet.

Wenn hier schon von Täuschung gesprochen wird, sollten wir folgern, dass Narziss' Benehmen nicht seinen wirklichen Gefühlen entsprach, dass er eher das Gegenteil von dem, was er äußerte, wünschte. Dieses widersinnige Verhalten ist so sonderbar wie auch Echos Tod, ist Bestandteil seiner Pathologie. Verächtlich äußerte er sich gegenüber Echo, und verleugnete seine Gefühle und Bedürfnisse: Er täuschte darüber hinweg.

 

Da er (zunächst/ "früher") die Männer verachtete, wird es ihm schwergefallen sein, die männliche Rolle adäquat zu leben - mit zunehmender Reifung hat er sich zunehmend selbst verachtet.

Warum er die Männer verachtete, bleibt Spekulation; Sein Vater, der den ganzen Tag in seinem Flußbett vor sich hin murmelnd verbrachte, sich nicht um seinen Nachwuchs kümmerte, nicht greifbar, aber immer unterwegs, und zwar bergab, war wohl ein denkbar ungeeignetes väterliches Vorbild und möglicherweise die Ursache für seine Männerverachtung.

Sein verächtliches Verhalten Echo gegenüber war Täuschung, seine Verachtung der Männer vorübergehend.

Offensichtlich hatte Narziss Verachtung (Verleumdung als Steigerungsform der Verleugnung) sich auf Affekte, unbewußte Regungen generell bezogen.

 

 

Ameinias

 

met. 3/404 f.  
Aber da hob ein Verschmähter die Hände zum Himmel und 
flehte
"Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!"

Narziss hat wohl stets so getan, als sei ihm sein Gegenüber nicht gut genug.

Bei Konon wird Narziß' Schicksal als verdiente Strafe dargestellt: Narziß verschmäht Ameinis (weist ihn verächtlich ab); Ameinias begeht - gewissermaßen auf der Schwelle von Narziß' Haus - Selbstmord, und fleht Eros an, ihn zu rächen. Eros entspricht dieser Bitte und Narziß stirbt mit der Realisation, dass er verdientermaßen an seiner Hybris zu Ameinias Liebe leidet.

Folglich, so KONON, wird Eros in Thespiai als großer Gott verehrt.


In einer anderen der griechischen Versionen war Narziß ein achtzehnjähriger boetanischer Junge, der das Opfer seiner Faszination für sein Spiegelbild wurde, das er eines Tages im Fluss Lamos sah.
Es ist anzunehmen, dass diese Darstellungen zu OVIDs Zeiten bekannt waren.
OVID war jedoch der Erste, der - in der römischen Version - die Geschichten von Echo und Narziß vereinigte (vgl. GALINSKY 1975, S. 52 f).

Wer war Ameinias? Nach neueren Recherchen ein Lehrer des

PARMENIDES, griech. Philosoph, * ca. 540 oder 515/510 v. Chr. in Elea (Süditalien), † zwischen ca. 449 und 440 bzw. um 445 v. Chr. - P., über dessen Leben wenig bekannt ist, gilt als Begründer der sog. Eleatischen Philosophie (Eleatismus).... P. pflegte Kontakt zu Pythagoräern wie Ameinias, dem er ein Monument errichtete, weshalb man auch sagt, er sei aus deren Schule entsprungen. ... Das Sein wird also u. a. genauso bewiesen, wie Gott im ontologischen Gottesbeweis bewiesen wird.

Was hingegen nicht Sein ist, ist Schein, und da dem Sein die Vielheit mangelt, existiert die Vielheit also nur scheinbar. Daher ist das Sein einheitlich und unveränderlich, womit sich P. gegen die Lehre von Heraklit wendet, nach der es nicht Beständiges gibt, sondern nur Veränderung. - An P.s kosmologischem Standpunkt ist vor allem interessant, daß er als erster die Lehre von der Kugelgestalt der Erde, die er zum Mittelpunkt des Weltalls erklärte, aufstellte. ..."

Ansonsten: OVID selbst wird ein Pythagoräer gewesen sein, einer, der die Seelenwanderung und Wiedergeburt als gegeben annahm ...

Wir haben keinen Anlass, die Ameinias-Episode, die OVID nicht erwähnte, überzubewerten. "Der Verschmähte" liebte - so wie Narziß nach der Verwünschung auch - und zwar "narzisstisch". Er wollte sein "Objekt" besitzen.

Anhänger des PARMENIDES könnten in der Liebe Schwierigkeiten bekommen, wenn sie voraussetzen: "Entweder, die Liebe ist, oder ist nicht. Wandlung, Verwandlung, Veränderung - nicht greifbar. Es gibt nur Sein oder Schein."

"Liebe will im andern leben; sie hat ihr reinstes Selbstgefühl im Mitgefühl mit dem anderen und hebt am höchsten über den Egoismus empor. In diesem Streben nach völliger Erhebung über den Eigennutz und tiefer Durchdringung mit dem anderen liegt freilich auch der Anspruch auf Alleinbesitz. Hierin unterscheidet sie sich von der Freundschaft, die selten einseitig, aber oft nicht ohne egoistische Beimischung ist."

Friedrich Kirchner - Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (1907)

 

   

 

Ein Dilemma:

Echo möchte sich verschenken, kann aber nicht beginnen, Narziss kann beginen, will sich aber nicht verschenken.

Echo kann nicht über ihre Wünsche sprechen, Narziss spricht davon, dass er keine Wünsche hat.

Wie er sich äußert, ist nicht sachlich, sondern anmaßend, von einer Selbstüberhebung geprägt, die die Göttin der Vergeltung, Nemesis, aktiv werden lässt.

Seine Bedürfnislosigkeit ist Fassade, eine perfekte Täuschung, an die er wohl selbst glaubt, solange er sein Gegenüber zurückweist.

Affektisolierung:

Die Person begegnet emotionalen Konflikten oder inneren oder aeusseren Belastungsfaktoren indem sie bestimmte Vorstellungen von den urspruenglichen mit diesen verbundenen Gefuehlen trennt.

Die Person verliert die Verbindung mit diesen Gefuehlen, die mit einer bestimmten Vorstellung (z.B. einem traumatischen Ereignis) verbunden sind, waehrend sie sich der kognitiven Elemente (z.B deskriptive Details) derselben bewusst ist.

Verdraengung:

Die Person begegnet emotionalen Konflikten oder inneren oder aeusseren Belastungsfaktoren, indem sie stoerende Wuensche, Gedanken oder Erfahrungen vom bewussten Erleben ausschliesst. Die Gefuehls- komponente kann bewusst bleiben und ist von den ihr zugehoerigen Vorstellungen getrennt.

Unbewußte Affekte, die vom Über-Ich nicht zugelassen werden können, werden abgespalten und ein traumatisches Ereignis kann so emotionslos geschildert werden (Abwehrmechanismus)

 

 

met. /405 ff

Die Göttin von Rhamnus erhörte die berechtigte Bitte.

 

Nemesis (griech.), dem Wortsinn nach s. v. w. Rechtsgefühl; dann in der Mythologie als Personifikation die Göttin des Gleichmaßes, welche darüber wacht, daß das Gleichgewicht der sittlichen Weltordnung nicht gestört, sondern Glück und Unglück dem Menschen nach Gebühr zugeteilt werde. Hieraus entsprang später (bei den Tragikern) die Vorstellung von einer Rächerin und Bestraferin aller menschlichen Frevel und Verbrechen, wodurch N. mit Gehe zu Ate (s. d.) und den Eumeniden oder Gehe zu Erinnyen (s. d.) verwandt wird. Adrastos sollte ihr das erste Heiligtum errichtet haben, weshalb sie Adrasteia hieß. Am berühmtesten war ihr Kult zu Rhamnus in Attika. Von der bildenden Kunst wurde die N. je nach der Auffassung verschieden dargestellt. In älterer Zeit ist ihr eine an Aphrodite erinnernde Gestalt gegeben worden, so in der berühmten Marmorstatue des Agorakritos zu Rhamnus in Attika. Auf ihre Bedeutung als die milde Göttin des Gleichmaßes aller Dinge spielte der erhobene, das Gewand am Zipfel fassende Arm an, womit das Ellenmaß bezeichnet wurde. Als die strenge Rächerin menschlicher Frevelthaten dagegen fährt sie geflügelt auf einem von Greifen gezogenen Wagen daher, ein Schwert oder eine Geißel haltend. Auch auf dem Kapitol war ihr eine Statue errichtet. Vgl. Walz, De Nemesi Graecorum (Tübing. 1852).

Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Meyers Konservationslexikon

 

allgemein:

Nemesis ist in der griechischen Mythologie die Göttin des "gerechten Zorns" sowie diejenige, die "herzlos Liebende" bestraft. Sie wurde dadurch auch zur Rachegöttin. Sie ist eine Tochter der Nyx ("Nacht") und des Okeanos oder Erebos und die Schwester von Eris, Hypnos, Ker, Momos und Thanatos. Ihre Begleiterin ist die Göttin Aidos ("Scham"). Zeus paarte sich mit Nemesis in der Gestalt eines Schwans, nachdem sie zunächst aus Scham und gerechtem Zorn vor seinen Nachstellungen geflüchtet war. Auf ihrer Flucht über das Meer verwandelte sie sich schließlich in einen Fisch, am Rand der Erde angelangt schließlich in eine Ente oder Gans, mit der Zeus nun als Schwan die Helena zeugte, um derentwillen schließlich der Trojanische Krieg geführt wurde. In einer anderen Version der Geschichte spielt Aphrodite die Nemesis Zeus zu, indem sie sich als Adler auf den Schwan stürzt, der sich nun in den Schoß der Nemesis "flüchten" kann. In beiden Erzählungen wird das Ei zu Leda gebracht, die Helena aufzieht - wenn sie nicht selbst die Mutter Helenas ist. Bei Aischylos - "Der gefesselte Prometheus" - heißt Nemesis auch Adrasteia ("die Unentfliehbare"), in Ovids Metamorphosen - nach ihrem Heiligtum mit dem berühmten Kultbild in Rhamnus - Rhamnusia, die den Narkissos bestraft, weil dieser die Nymphe Echo und andere durch seine Unerbittlichkeit zugrunde gerichtet hat. Nemesis bestraft vor allem die menschliche Selbstüberschätzung und die Missachtung von Themis, der griechischen Göttin des Rechts und der Sittlichkeit.

 

 

- Zitat -

- Rolle Nemesis, Göttin der Vergeltung.

Und, wenn wir auch nur halbwegs sorfältig mit dem Text umgehen, haben wir die Frage zu beantworten:

"Inwiefern ist die Bitte gerechtfertigt?"

Ansatz: Narziss überlässt Ameinias sich selbst, um selbst seinem Narzissmus zu frönen, und das Gegenüber, wie Echo, auf die Selbstliebe zu verweisen.

 

 

Narzistische Kränkung nicht nur als Verletzung der Selbstliebe, sondern auch als von ienme Narzissten zugefügte Kränkung. Das krank-machende am Narzissten: Hohn, Spott, Verachtung, Schmach, Schande.

(Unter den Blinden ist der einäugige König); Verblendung, Blendung (Tiresias<-->Narziss)

 

 

 

Narziss an der Quelle

 

 

met. 3/415

Doch wie den Durst er zu stillen begehrt, erwächst ihm ein
                                                   anderer
Durst; beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen

Liebt er ein körperlos Schemen: .....



 

Narziß liebt. Er liebt, als es darum geht, seinen Durst zu stillen, und nachdem er getrunken hat. Wer denkt, er hätte Wasser getrunken, könnte sich täuschen: Die Quelle ist frei erfunden.

Narziß' Liebe gilt keiner realen Person, keinem Wesen aus Fleisch und Blut, sondern einer visuellen Vorstellung, er phantasiert beim Blick in den Spiegel. Aus dem ursprünglichen Durst entwickelt sich "Liebe" (nicht "Hunger nach Liebe", sondern "Durst nach Liebe") - Begierde und Lust auf ein Trugbild?

Über das "Spiegelstadium" in der Entwicklung des Menschen ist viel geschrieben worden, es stelle einen markanten Punkt dar, wenn das Kind sein Spiegelbild erkennen könne.

Das körperlose Schema, das Narziss liebt, ist nun gerade nicht sein Spiegelbild, sondern eine vorgestellte Figur, die einem bestimmten Schema entspricht, also ein bestimmtes Muster aufweist, ist mehr Idee als Realität, hat, genauer gesagt, mit der Realität im Sinne von Gegenwart überhaupt nichts zu tun, und ist doch nicht frei erfunden.

Narziss ist hinter jenen Punkt, an dem das Kind lernt, dass das Spiegelbild keine andere Person, sondern ein Spiegelbild seiner selbst ist, hinausgegangen: Rückwärts, und er ist, psychologisch ausgedrückt, in einer Regression.

Eine andere Ebene ist das menschliche Bedürfnis nach "Spiegelung", nach Rückmeldung.
Wenn von "Spiegelmechanismen" gesprochen wird, beinhaltet dies, dass Spiegelungen von Verhalten und Gefühlen "automatisch" und unbewusst ablaufen (aber auch zu erkennen sind).

Die ursprünglichste der angesprochenen Ebenen ist wohl das schlichte Bedürfnis, gesehen zu werden, w a h r genommen zu werden: Erst die Wahrnehmung macht uns wirklich, wie wir gesehen werden, darauf beruht im übertragenen Sinne das Ansehen, das wir im positiven Falle genießen.

Narziß hatte Echo nicht ignoriert, sondern verstoßen - also durchaus "registriert", aber eben nicht wahr_g_e_n_o_m_m_e_n.
Da wir von einer ursprünglichen Ebene sprechen, liegt es nahe, hinzuzufügen, dass das Kind nun einmal angenommen, aufgenommen, auf den Arm, an die Brust usw. genommen wird. Es will gehalten werden, es braucht Halt.

Die allerfrüheste Phase der Entwicklung wird durch die Befriedigung des oralen Bedürfnisses durch die primäre Bezugsperson beherrscht, was in der Regel mit einem bergenden Hautkontakt einhergeht.


Durst - der "andere Durst", der Narziss befällt jedenfalls - ist damit mehr als das Bedürnis nach Flüssigkeit, das Trinken nicht nur Flüssigkeitsaufnahme, parallel zu den oralen Aktivitäten gibt es visuelle Wahrnehmungen, Wahrnehmungen, die über die Haut als Sinnesorgan vermittelt werden, und Wahrnehmungen aus dem Körperinneren, etwa vom Gleichgewichtsorgan, aber auch Rückmeldungen über Hunger und Sattheit.

Die Bilder, die auf der Netzhaut ablaufen, können in der Frühzeit noch nicht verarbeitet werden, sondern allenfalls unscharfe Gebilde (Schemen) ergeben, sind als verschwommene Bilder nicht im Wortsinn eingeprägt, aber doch Grundlage der Wahrnehmung.

Zeitgleich mit der visuellen Wahrnehmung sind die anderen Sinne beteiligt, es ergibt sich ein "Gesamtengramm".


Es sieht manchmal so aus, als sehnten wir uns ein Leben lang danach, die Erfahrung des gestillt-werdens zu wiederholen. Als Erwachsene haben wir - über die Ernährung - den oralen Aspekt dieser Erfahrung sozusagen selbst in der Hand, solange keine Essstörung vorliegt.

 

Der Spiegel bietet ein Bild, aber ein Trugbild, ein ungefähres Bild: Ein Schemen oder Schema.
Er zeigt Symmetrie zwischen Akteur und Spiegelbild, erlaubt Distanz, Nähe aber nur bis an die Oberfläche - ein Eindringen, Zugreifen, festhalten - besitzen - des Anderen ist ausgeschlossen.

Die Symmetrie ist eine Spiegelsymmetrie: Hebe ich die rechte Hand, hebt mein Spiegelbild die linke.

Bei einer realen Person ist die Symmetrie bei genau entsprechenden Handlungen über Kreuz.

Die "Antwort" beinhaltet also eine leichte Modifikation - woraus in der Comedy schon köstliche "Spiegelszenen" gestaltet worden sind.

Auch die "Resonanz" der akustischen Rückmeldung einer realen Person kann nie der eigenen Stimme genau gleichen; Echo hatte das ja deutlich gezeigt, indem sie das Gesagte in ihrem Sinne modifizierte. (Wobei sie, technisch gesehen, eigentlich auch ihrer eigenen Stimme ein Echo hätte verleihen können; da sie das nicht getan hat, haben wir noch eine zusätzliche Unterscheidung zwischen Echo und (Nach-) Hall u treffen).

Kommt es zu einem Gespräch, entwickelt es sich, weil die Symmetrie aus Aussage und Antwort eben nicht hunderprozentig ist, und die Ebenen von Aussage und Antwort über den Austausch von Bewegungsmustern hinausgehen, sich auch auf verschieden Sinne erstrecken; eine akustische Aussage kann zum Beispiel eine gestische Antwort erhalten - eine Handbewegung, eine hochgezogenen Augenbraue, eine mimische Reaktion.

Beim "Ur-Dialog" sind alle Sinne beteiligt, und wenn z.B. der Säugling schreit, ist die optimale Antwort evtl., ihn auf den Arm zu nehmen, und Körperbewegungen können mit Worten beantwortet werden.

 


 

Der Held, der Antiheld an der Quelle, konfrontiert sich mit seinem Spiegelbild.

Warum, wozu eigentlich?

Was macht er da, was sieht er da?

Sollen wir uns wirklich mit solchen Fragen beschäftigen?

  Auge, archaisch  

 

3/432

Glauben

Nun mischt sich kommentierend der Autor ein, wir müssen mit ihm die Perspektive, den Blickwinkel ändern, da er die Erzählung unterbricht:

"Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern".          

Natürlich ist es ein rhetorischer Trick, die erdachte Figur, die keine wirkliche Existenz hat, anzureden.
Die Worte richten sich eher an die Leser, als an Narziß, sind "Spiel", wie wenn ich im Spiel etwas zu einer Puppe sage, damit z.B. das Kind versteht. Wenn wir uns einmal von der Vorstellung befreien können, dass hier Narziß angesprochen werde, können wir den Satz isoliert betrachten, nehmen wir an, der Dichter wollte in den Metamorphosen nicht "nur" eine Reihe von Verwandlungen schildern, sondern auch seine Sicht der Welt darstellen.

Ovid spricht auf einer Ebene den "gläubigen Knaben" an, und wir sind gemeint. Auf einer anderen Ebene wird gleichzeitig das Thema des Glaubens angesprochen; bei dem alten Publikum, das mit den Gestalten aus den Metamorphosen ja wesentlich vertrauter war als wir, die antike Religion.
Dann haben wir es zugleich mit einem Stück Religionskritik zu tun, denn die religiösen Mythen können nur im Glauben für wahr genommen werden, widersprechen ansonsten dem gesunden Menschenverstand, erweisen sich selbst den Gläubigen als flüchtige Bilder, es sei denn, jene halten an ihren Wünschen, z. B. von einer göttlichen Über-Instanz auserwählt oder berufen zu sein, fest.
Derartiger Glaube lässt sich gesellschaftlich zu einer Überzeugung umformen, stets gibt es Nachwuchs für die Priesterschaft, werden Tempel, Klöster usw. bereitgestellt. Um was, wenn nicht um Erfundenes, flüchtige Bilder, Vorstellungen, Phantasien, Projektionen sollte es sich bei den Göttern und Halbgöttern denn gehandelt haben?

"Es ist im ernst die Frage geschehn, ob die heidnischen Götter wirklich da gewesen seien? und mir graut darauf zu antworten. die einen leibhaftigen teufel und eine hölle glauben, die daran giengen hexen zu brennen, können geneigt sein es zu bejahen, weil sie wähnen die wunder der kirche durch den erweis des wunders, das in besiegung der falschen götter als wirklicher feinde und gefallner engel enthalten wäre, zu festigen." (GRIMM)

 

Unsere 10 Gebote, die den Gläubigen in Stein gemeißelt vorgestellt werden - als griffe ein göttliches Wesen zu Hammer und Meißel, sollen, müssen wir ja auch für wahr und wirklich nehmen ...


 

Narziss begehrt nicht sich selbst, sondern ausdrücklich "flüchtige Bilder", Trugbilder, vorüberziehende Bilder, die er nicht festhalten kann, einige Schemen - was genau, bleibt unserer Vorstellung überlassen, die der Hinweis, dass Narziss nach flüchtigen Bildern hasche, zum Beispiel an das Bild einer Katze, die einen Lichtstrahl einfangen will, oder einen Träumenden, der seine Visionen vergisst, denken lässt.


Diese Assoziationen betreffen das "Haschen", nicht das Begehren. Die weitere Intervention des Autors mag zwar bedrohlich klingen

 "Was du begehrst, du wirst es vernichten!" 

Wir müssen jedoch nochmals klarstellen, dass hier lediglich ein Irrglaube zerstört wird - wenn wir dem Mythos Wort für Wort Glauben schenken, ihn so verstehen wollten, dass Narziss sich selbst vernichte (wir sind die Tragödie ja gewohnt), begeben wir uns selbst in die angesprochene Perspektive des gläubigen Knaben, dem der Glaube an seine Illusionen zum Beginn ihrer Vernichtung gerät, dessen Täuschungen in der Selbstaufgabe und Selbstzerstörung oder -Auflösung enden.

Welchen Vorstellungen - Schemen - Narziss' Begehren gilt, müssten wir aus dem Zusammenhang erschließen. Dezidierte Wunschvorstellungen werden nur in Ausnahmesituationen kommuniziert, sind nicht zu verallgemeinern.
Das von Narziß Begehren konstituierte, triebhaft verfolgte "Schema" nebst der "Nebensschemen" ist ohne Bestand; dass die Schemen, die Phantasien, die wir auch als Selbsttäuschungen verstehen können, der Enttäuschung weichen, versöhnlicher gesagt: dem Realismus, wäre eine Lesart, in der die prophezeihte Zerstörung eine konstruktive Bedeutung findet.

Beschäftigt ist Narziss jedoch mit dem "nichtigen Spiegelbild", das kein eigenes Wesen hat und nur mit ihm erscheint, das auch mit ihm weggehen wird - wenn er in der Lage wäre, zu gehen; er kann,

"mit niemals gesättigtem Blicke, / ganz durch die eigenen Augen vernichtet", (met. 3.459/450)        

den Ort nicht verlassen.

 

3/454

Wenn ich dich fasse, wo schwindest du hin? Du kannst doch vor

                                    meiner
Jugendschönheit nicht fliehn? Selbst Nymphen ersehnten mich 
                                 einstmals


 

 

Er kann auch nicht fassen, dass er nicht geliebt wird, nicht so, wie er es gern hätte, und überhaupt nicht.

Seine "Trumpfkarte" Jugendschönheit sticht nicht, oder nicht mehr.

Immerhin ruft er nicht Nemesis an, was nach Ameinias' Verwünschung, die ja die Spiegelbildlichkeit des Liebesleids vorsah, auch hätte geschehen können oder müssen.

 

 


 

 

"Bei der Onanie verliebt sich der Knabe in sich selbst, sein Gebrauch der Geschlechtsorgane ist eine Schule für die Zukunft." (CHAMBERLAIN 1902, S. 402)

Bei Narziss, der sich, wie sein sein Name sagt, selbst betäubt, müssen wir hier auch die Reaktion auf einen seelischen Schmerz hin berücksichtigen.

Die Schmerzreduktion kann auf verschiedene Weise erfolgen:

Mit Kälte; psychologisch kennen wir analog das "eiskalte Wesen", die eingefrorene Mimik, den kalten Blick, erkaltete Gefühle, Gefühlskälte, Frigidität.

Die Eingeschränkte Wahrnehmung: "Betäuben" und "taub" dürften sprachlich die gleiche Wurzel haben; es gibt hier eine Beziehung zum (Nicht-) Hören. Odysseus' Manschaft musste gegen den Gesang der Sirenen die Ohren mit Wachs verschließen - da gab es Sinnesreize, die nicht aufgenommen werden durften.

Alltäglich wird etwas überhört, oder auch übertönt, so mancher Lärm ist rituell begründet, und auch das Konzert der Rasenmäher, das mancherorts regelmäßig die Ruhe stört, dient eben dem Zweck, nicht zur Ruhe zu kommen.

Die Blindheit wurde schon bei Tiresias angesprochen, verbreitet sind auch Betriebsblindheit und das nichts-mehr erkennen, etwa, wenn wir vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen.

Die Reizreduktion erhöht oft die Sensibilität in anderen Bereichen, wir schließen gelegentlich die Augen beim Riechen usw.

Ständig alles zu erklären ist auch eine Form der Nichtwahrnehmung: Die "wissenschaftliche Erklärung" klammert gern die eigenen Gefühle aus. ("Rationalisierung")

Wirkstoffe wie Drogen dienen der Sedierung oder der Anregung, vom friedlichen Schlafzustand (Lotophagen, Morpheus) bis zur Ekstase (Baccus).

Damit verwandt sind die Endorphine, die in Reaktion auf äußere oder innere Reize ausgeschüttet werden, also auf angenehme oder schmerzhafte Stimulation.

 

Sexuell motivierter Masochismus [Bearbeiten] Die Patienten empfinden sexuelle Befriedigung nur in Situationen der Demütigung bzw. Unterdrückung oder durch das Erleben von Schmerzen. Der Sexualpartner kann dabei auch durch ein anonymes, unpersönliches oder fiktives Gegenüber ersetzt sein. Selbstverletzungen kommen auch hier vor, in der Regel jedoch nicht als kompensatorische, sondern als Teil der sexuellen Handlung. Abzugrenzen hiervon ist der kompensatorische Masochismus bei dem die masochistische Handlungen nicht als Einleitung oder Mittel zur Durchführung sexueller Handlungen einschließlich des Geschlechtsverkehrs vorgenommen werden, sondern diese vollkommen ersetzen.

 


 

"Eye" wird zu "Ich"; die Pupille ist wortverwandt mit dem Püppchen

 

 

- warum das so ist, muss Dali geahnt haben, der hier die Metamorphose des Narzis darstellt.

 

Narziß war abhängig von der Bewunderung durch Andere. Die hatte er schon früh gebraucht, sie war lebensnotwendig.

Die Möglichkeit, Bewunderung zu erregen, ist abhängig vom Blick des Anderen - und angeboren, wie das Beispiel des Pfaus zeigt. Die verführende Bewunderung macht den "Star" zum Stern.

 

Der Zyklop ist ein Barbar, der noch keine Lüge, keine List, keinen Betrug erwartet oder kennt.

 

Wenn Poyphem, der Einäugige

und die Blume etwas in uns ansprechen, ist das kein Zufall,

denn die frühe Wahrnehmung ist begrenzt.

einauge

Wenn die Nervenimpulse, die von den beiden Augen ausgelöst werden, ein Bild ergeben sollen, müssen sie zusammengeführt und gemeinsam ausgewertet werden. Mag sein, der Säugling ist zum fokussieren noch nicht in der Lage, noch nicht zur Ausrichtung der Blickachsen auf ein nahes Objekt - damit würde er von einem Gesicht nicht gleich wahrnehmen, dass dieses zwei Augen hat, da er ja - jedenfalls aus der Nähe, mit jedem seiner Augen die ungefähr gleiche Bildinformation - eine Art Kreis mit unterschiedlicher Helligkeitsverteilung, einen unscharfen Augapfel also - gliefert bekommt.

Verknüpft mit diesem Schema werden die anderen Körperwahrnehmungen und die Erwartungen, die an das Erscheinen der "Gestalt von gegenüber" mehr und mehr gebunden sind.

Zum instinkt- und reflexhaften Verhaltensrepertoire kommen gelernte Verhaltensweisen, Einstellungen, Wünsche hinzu: Die seelische Geburt?

Beim Dreimonatslächeln haben wir es mit einem ewrorbenen Auslösemechanismus zu tun; Der hält an, bis er von differenzierter Wahnehmung, im "Fremdeln", überlagert wird.

 

"Narzisstisch" und "ödipal" gelten als Gegensätze, als sei Ödipus Narziss' Gegenspieler.
Dass Ödipus eher eine Randfigur gewesen sein mag, wollen wir nicht so recht glauben.
da wir doch von der Universalität des Ödipus-Komplexes überzeugt worden sind.

Wir glauben an den Ödipus-Komplex, sind in dieser Hinsicht Gläubige, Angehörige
einer spezifischen Religion. Wohl mag jede Religion ihren wahren Kern haben, jedoch
dem Stifter dieser Religion, dem "Ödipus-Papst" die Gefolgschaft zu kündigen - ach,
warum nicht? (Wen interessiert noch Theben, des Ödipus' Stadt?)

Der "listenreiche" Odysseus hat als Gegenspieler doch weit mehr Profil ...

Hat Narziss das Nirwana, einen spannungsfreien Raum, Bereich oder Zustand, gesucht?

 

Terminologie

Im weiteren Zusammenhang mit der Selbstpsychologie tauchen Termini wie "Selbstwert" und "Selbstwertgefühl" auf. Gewisse Labilitäten werden festgestellt ...

Gesicherter ist die Existenz des Eigenwerts, der unverrückbar, durch die bloße Existenz bedingt, vorhanden ist.

  • Narzissmus führt in die Isolation, die Isolation in den Narzissmus

 

»Wer in sich selbst verliebt ist, hat wenigstens bei seiner Liebe den Vorteil, daß er nicht viele Nebenbuhler haben wird.« Georg Christoph Lichtenberg

 


Die Anfänge der Mythologie - der "Kunst, von Göttern zu erzählen" - und die Anfänge der Wissenschaft fallen, so gesehen, zusammen. [zurück]

Vom heutigen Standpunkt aus gesehen ist Mythologie auch als Archäologie des Wissens zu verstehen: "Wissen" ist mehr als das, was in gedruckter Form vorliegt. Die Überlieferung in den Zeiten vor der Schrift geschah mündlich - und war nicht jedem zugänglich; es gab Geheimwissen, kultisches Wissen.

Die Schriftform unterliegt auch heute noch der Selbstzensur, üblich ist das "Blatt vor dem Mund".

 

 

Unüberlegt aus der eigenen Erfahrung zu erzählen, und unbesorgt um die Folgen - das hatte nichts mit Prophetie zu tun - hier war Tiresias mehr oder weniger noch auf der Stufe des angstlosen Narren.

Dass er später zum richtigen Seher und Propheten wurde, hat auch mit seiner Blindheit zu tun - mit der ist eine größere Empfänglichkeit für die inneren Bilder, mehr zuhören als Zusehen und vieles mehr verbunden.
Die sieben Menschenleben dauernde Lebensspanne symbolisiert die größere Lebenserfahrung, lebenslanges Lernen und den Rückgriff auf überlieferte Erfahrungen, die es nicht nur aufzunehmen, sondern zu erschließen gilt.

Die "Lust an der Prophetie" ist ein moderner Klassiker: Horoskope, Tarot, psychosoziale Beratung boomen wie eh und je. Das I-Ging bietet eine Antwort auf jede Frage, aber es dauert, bis man damit umgehen kann.
Sinnsuche, die Sehnsucht nach einer besseren Welt, das Bedürfnis nach Spiritualität und manchmal ein leerer Kopf sind mit einer unklaren Identität verwoben in der Frage: "Was wird?"

Wir "lesen im Kaffeesatz" oder erstellen mit mathematischen Modellen und EDV Prognosen und Risikoeinschätzungen. Die Naturbeobachtung kann Klimatendenzen erkennbar machen und vor Katastrophen warnen.

[zurück]


 

... Sphinx, Sirenen, Polyphem als Beispiele.

[zurück]


Chamberlain, Alexander: The Child: A Study in the Evolution of Man, New York 1902

Narzissmus bei Heinz Kohut

 



 

 


| zurück | weiter | Text: Narzissmus und Diät

 

Startseite

Ziele
Ideale
reale
Antrieb
Hunger
fressen
Motorik
0- Diät
Sport
Aktion
Lernen
Lesen!
Kontakt
Forum
Rezepte
Themen
Zubehör
Impr.
Links
Neue Artikel bei Fressnet.de

 

Diese Seiten werden aktualisiert.

Bitte, denken Sie an Ihr Lesezeichen (IE)

 
  

Datei erstellt

aktualisiert

www.fressnet.de

 
  

Mai 2006

27.09.06-161

webmaster@fressnet.de